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Poetische Verfremdungen. Wörterbücher und Vokabeln – gegen den Strich gelesen und verwandelt
Tawadas Poetik in Stichworten

Literarische Produktivität ist im wesentlichen eine spezifische Form des Umgangs mit Zeichensystemen. Wegweisend ist dabei die Erinnerung an den alten (›magischen‹) Glauben an einen direkten Wirkungszusammenhang zwischen Sprache und Dingen. Dieser wird gleichsam zitathaft wieder dem Umgang mit Wörtern zugrunde gelegt. Prägend für Tawadas Stil ist der unkonventionelle Umgang mit Zeichen, durch ›abweichenden‹ Zeichengebrauch. Durch die Verfremdung der konventionellen Beziehungen zwischen Wörtern und Bedeutungen (und zwischen den Wörtern selbst) verändert sich die – normalerweise durch Codes gestiftete und geregelte – Beziehung zwischen Zeichen und ihren Bedeutungen: Die Wörter verwandeln sich von bloßen Etiketten zurück in Bedeutungsträger, die von keiner Konvention, keinem Code abhängen; ihre Bedeutungen oder Bedeutungspotentiale hängen (bildlich gesprochen) ohne jede Vermittlung eines Dritten an ihnen selbst.

Das Wörterbuch fungiert als poetologisches Modell. Denn es macht erstens evident, daß die Dinge verschiedene Namen haben, der Bezug zwischen Wörtern und ihren Bedeutungen also durch Konventionen geregelt ist. Gerade Übersetzer wissen dies. Zweitens lassen sich gerade Wörterbücher so arrangieren, daß die im Übersetzungsprozeß stattfindenden semantischen Verschiebungen evident werden. Wenn ein ›übersetzter‹ Ausdruck konnotationsreicher, komplexer oder schlichtweg ›anders‹ klingt als vertraute Ausdrücke, dann erweist sich ganz konkret, in welchem Maße Bedeutungen von ihren sprachlichen Signifikanten abhängen und geprägt werden. Wird der »Delphin« im Chinesischen als Meer-Schwein beschrieben, so ist »Meerschwein« kein einfaches Äquivalent zu »Delphin«. Sondern die Differenz beider Ausdrücke verdeutlicht, in welchem Maße die Vorstellung von einem bestimmten Tier davon abhängt, wie man es nennt. Die Wörter selbst, mehr als bloße Etiketten, bestimmen über diese Vorstellung. Das Übersetzen ist Metapher des literarischen Arbeitsprozesses, weil es entsprechende Verschiebungsprozesse auslöst. Literarisches Schreiben ist Arbeit an und mit einer Fremdsprache, auch und gerade wenn es sich um ein Schreiben in der eigenen Muttersprache handelt. (Vgl. Tawada 1998, 10f.: Sie verstehe es, so Tawada, »als künstlerisches Experiment, eine fremde Sprache zu sprechen und dabei die körperlichen Anstrengungen zu beobachten.«)

Tawada interessiert sich für die oft unscharfen Ränder unserer mit Wörtern verbundenen Vorstellungen. Sie tastet gern Wörter und Ausdrücke fremder Sprachen auf deren meist vergessene Bidhaftigkeit und Metaphorizität ab, verbindet mit ihnen mögliche Konnotationen und beobachtet sie auch hinsichtlich ihrer Lautwerte oder visuellen Qualitäten mit der Neugier dessen, der auf Überraschungen gefaßt ist. Aber auch Ausdrücke aus dem Japanischen und aus dem ihr inzwischen zur geläufigen Schreibsprache gewordenen Deutschen werden entsprechend unter die Lupe genommen, be- und umschrieben wie in einem Wörterbuch. Im Wörterbuch wird aus vertrauten Vokabeln durch scheinbare Bereitstellung schlichter Äquivalente etwas anderes: Assoziationshorizonte, die das Signifikat umgeben, verschieben sich, die Abhängigkeit von Welt-Bildern von ihren Bezeichnungen wird evident. Indem so das Wörterbuch exemplarisch die Bindung zwischen Wörtern und Vorstellungsgehalten demonstriert, wird es zum Ort, an dem die quasi-›magische‹ Dimension poetischen Sprachgebrauchs sich exemplarisch entfaltet.

Das »Wörterbuch« ist Matrix – und in dieser Eigenschaft ein Gleichnis des poetischen Textes. Es enthält – auf der ›einen Seite‹ – geläufige Ausdrücke, löst diese aber aus ihrem gewöhnlichen Kontext und versetzt sie in neue Kontexte, durch welche die Ausdrücke auf unvertraute Weise ›umschrieben‹ werden. Diese neue ›Umschreibung‹ des Ausdrucks bedingt es, daß die Abhängigkeit seiner Bedeutungen von den jeweiligen Umschreibungen erkennbar wird. So erschließen sich erstens bislang unentdeckte Bedeutungspotenziale. Und zweitens wird durch die umschreibende Arbeit am Ausgangswort demonstriert, daß zwischen Ausdruck und Bedeutung ein innerer Zusammenhang besteht. Die Wörter gewinnen – mit Benjamin und Tawada gesagt – etwas von ihrer magischen Kraft zurück, bzw. diese wird wieder sichtbar gemacht.

»›Die Wörter sollen nicht das sein, was sie meinen‹, sagt der Zollbeamte der Grammatik. ›Man darf aus dem Wort ›Drogen‹ keine Drogen machen. Man darf nicht die Drogen aus dem Land der Wörtlichkeit einschmuggeln.‹ / Dichter sind Alchemisten. Das Wort ›Kot‹ fängt dann an, nach Hundekot zu duften und das Wort ›Mist‹ nach einem Heuhaufen.« (Tawada 2005, 15)