P.
Poetische Verfremdungen. Wörterbücher und Vokabeln – gegen den Strich gelesen und verwandelt
Das Wörterbuch als Brutstätte. Tawadas Wortgeburten

Der dem Ende des »Wörterbuchdorfes« zugrundeliegende Einfall, Wesen aus geschriebenen Wörtern hervortreten zu lassen, erinnert kaum zufällig an Walter Benjamins Aufsatz über ABC-Bücher. In ihrer germanistischen Dissertation zum Thema »Spielzeug und Sprachmagie in der europäischen Literatur« (Tübingen 2000) hat Tawada diesen Aufsatz ausführlich kommentiert. »Ein ABC-Buch zu lesen heißt, eine Kette der Signifikanten wahrzunehmen und sich den durch ihre Logik hervorgebrachten Signifikaten zu überlassen.« (Tawada: Spielzeug, 2000, 157) Sie selbst experimentiert mit der Produktion von Wortgeschöpfen. Ganze Geschichten entstehen aus dem Nukleus von Wörtern, die ihr aufgefallen sind. Dafür nur zwei Beispiele, die nicht zufällig mit dem Vorstellungshorizont um Körperwachstum und Fortpflanzung verknüpft sind.

Das deutsche Wort ›Zelle‹ wird in »Erzähler ohne Seelen« (in: Tawada 1996, 16ff.) zur Keimzelle einer Erzählung über allerlei Zellen.

»Eines der deutschen Wörter, die mir in der letzten Zeit zunehmend gefallen haben, ist das Wort ›Zelle‹- Mit Hilfe dieses Wortes kann ich mir viele kleine lebende Räume in meinem Körper vorstellen. In jedem Raum befindet sich eine erzählende Stimme. Diese Zellen sind deshalb vergleichbar mit Telefonzellen, Mönchszellen oder Gefängniszellen.« (Tawada 1996, 16)

Im folgenden überblenden sich – bedingt durch die im Deutschen bestehende Homonymie – Bilder und Berichte über Kommunikationsformen und ‑technologien (Reihen von Telefonzellen mit Mädchen darin, Beichtstühle, Schreibtische, Raumschiffe, Simultanübersetzerkabinen) einerseits, über den menschlichen Körper andererseits. Das eine erscheint im Licht des anderen – und im Bild der Übersetzung, die in einer »Zelle« stattfindet. (»Der menschliche Körper hat auch viele Kabinen, in denen Übersetzungsarbeiten gemacht werden. Ich vermute, daß es dort um die Übersetzungen ohne Original geht.« Tawada 1996, 19)

Eine Liste von Komposita von »-mutter« wird zum Ausgangspunkt für »Sieben Geschichten der sieben Mütter« (100ff.). Das Stichwort »Stiefmutter« löst eine Reflexion über die Fremdheit gegenüber sich selbst und die Distanz zwischen vorgeburtlichem und geborenem Ich aus, die »Gebärmutter« wird zum Modell, dem die Erzählerin ihr Schreibzimmer anzugleichen versucht. Mit »Doktormutter« assoziiert wird der Wunsch nach einer Gebärmutter mit zwei Ausgängen, deren je einer in die Welt der Toten und in dieser Sprache führt (102); weitere Reflexionen knüpfen sich an »Perlmutter«. »Muttermale«, »Muttererde« und »Mutterseelenallein« (101-104). Diese und andere Sprach- und Wortspiele sind Konkretisierungen einer Poetik, die beim Sprachlichen ansetzt, um verfestigte Bedeutungen zu verflüssigen, geläufige Codes aufzubrechen – und so die Welt zu verwandeln.

Ein ›wörterbuchförmiger‹ Text ist der Beitrag zu »Talisman« mit dem Titel »Sieben Geschichten der sieben Mütter«. Anschließend an eine Einleitung, in der die Ich-Erzählerin berichtet, in ihrem bisherigen Leben hätten »die Mütter eine große Rolle gespielt« (100), erläutert sie, nicht die leibliche Mutter sei damit gemeint, »sondern sieben andere Mütter«: »die Stiefmutter, die Gebärmutter, die Doktormutter, die Perlmutter, das Muttermal, die Muttererde und das Mutterseelenallein« (100.) Darauf folgen sieben Abschnitte, die unter den genannten Stichwörtern stehen und ausführen, was die entsprechenden Stichworte bzw. deren Denotate für die Erzählerin bedeuten. Charakteristisch für alle Artikel ist, daß sie vertrautes auf ungewöhnliche Weise behandeln und damit neue Perspektiven eröffnen, neue Ideen auslösen. Im Artikel »Stiefmutter« heißt es etwa, die bei Kindern häufige Spekulation, ihre Mutter sei vielleicht nicht ihre Mutter, sondern ihre Stiefmutter, habe einen wahren Kern. Denn man selbst sei nach der Geburt nicht mehr der- bzw. dieselbe, der/die man im Leib der Mutter war; vor dem Geborenwerden und nach dem Tod sei man jemand anders; jeder, der geboren werde, sei »eine Fälschung« (101). Das Lemma »Gebärmutter« handelt vom Versuch, das eigene Schreibzimmer so zu gestalten, »daß es einer Gebärmutter gleicht« (102): Dann sei das schreibende Ich einerseits in einer Gebärmutter, trage andererseits aber eine in sich, so daß sich die Unterscheidung von Außen und Innen relativiere und die Schreibende (das Ich) eine Art »Membrane zwischen der Außenmutter und der Innenmutter« sei (102).