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Unendliche Listen: Das Projekt einer Enzyklopädie der Toten
Danilo Kiš: »Enzyklopädie der Toten«

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Angedeutet wird auch der Sinn dieses enzyklopädischen Unternehmens: Materialien für einen künftigen Gerichtstag über die Toten bereitzustellen, dafür zu sorgen, daß nichts und niemand in Vergessenheit gerät.

»Ich glaube, auf Grund dieser Aufzeichnungen kann man wenigstens annähernd ahnen, wie groß die Menge der Informationen ist, die in der ›Enzyklopädie der Toten‹ von denjenigen eingetragen werden, die sich der so schwierigen und eines jeden Lobes würdigen Aufgabe unterzogen haben – zweifelsohne objektiv und unbefangen –, möglichst viel von allen jenen aufzuzeichnen, die ihren Lebensweg beendet haben und sich zum ewigen Dauern begeben müssen.
(Denn sie glauben an das Wunder der biblischen Auferstehung und bereiten sich mit dieser gewaltigen Kartothek nur auf das Kommen dieser Stunde vor. So wird ein jeder nicht nur seinen Nächsten finden können, sondern, vor allem, seine eigene vergessene Vergangenheit. Dieses Register wird dann wohl ein großer Hort der Erinnerung sein und ein einzigartiger Beweis für die Auferstehung.)«

Mit dem Projekt, niemanden in Vergessenheit fallen zu lassen, ist implizit die Überzeugung verknüpft, ein jedes Leben sei es wert, erinnert zu werden. Diese Vorstellung wiederum verbindet sich bei den im Geheimen wirkenden Enzyklopädisten der Toten ein politisches Anliegen: Es geht ihnen darum, an diejenigen zu erinnern, die innerhalb der Menschheitsgeschichte keine wichtige Rolle gespielt haben – die Leitidee ist eine demokratisch-egalitäre.

»Augenscheinlich gibt es für sie, wenn es um ein Leben geht, keinen Unterschied, ob es von einem Kaufmann aus dem Bezirk Banija handelt oder seiner Frau, vom Dorfpfarrer (das war mein Urgroßvater) oder dem Dorfglöckner, einem gewissen Cuk, dessen Name auch in dem Buch, über das ich berichte, aufgezeichnet ist. Die einzige Bedingung – das hatte ich aber sofort begriffen, denn dieser Gedanke war mir anscheinend wie von selbst zugeflogen, noch bevor ich ihn überprüfen konnte –, um in die ›Enzyklopädie der Toten‹ aufgenommen zu werden, war, daß derjenige, dessen Namen hier vertreten sein sollte, in keiner anderen Enzyklopädie vorkommen durfte. Was mir auf den ersten Blick auffiel, während ich im Band ›M‹ blätterte – einem der vielen tausend Bände mit diesem Buchstaben –, war das Fehlen bekannter Menschen.« (49)

Damit soll den Toten, die als unbedeutend galten und ohne die Enzyklopädie bald vergessen würden, Gerechtigkeit widerfahren.

»Die ›Enzyklopädie der Toten‹ ist das Werk einer Sekte oder Glaubensgemeinschaft, die in ihrem demokratischen Programm einer egalistischen Vision der Totenwelt folgt – gewiß durch eine biblische Voraussetzung –, mit der Absicht, die menschliche Ungerechtigkeit zu überwinden und allen Geschöpfen Gottes denselben Status für die Ewigkeit zu sichern. Bald begriff ich auch, daß die ›Enzyklopädie‹ nicht in die ferne Finsternis der Geschichte und der Zeit zurückreicht, sondern daß die Anfänge dieses Buches irgendwie mit dem Jahr 1789 verbunden sein müssen. Diese seltsame Kaste von Eruditen muß überall auf der Welt ihre Anhänger haben, die die Todesanzeigen und Biographien der Menschen hartnäckig und diskret wälzen, um dann die Angaben zu bearbeiten und der Zentrale mitzuteilen, die sich hier in Stockholm befindet.« (49)

Vielleicht, so spekuliert die Erzählerin, gehört auch Frau Johannson zur Geheimgesellschaft und hat sie hierher geführt, um ihr Trost zukommen zu lassen. Vielleicht, so überlegt sie weiter, ist es die Erinnerung an kirchliche Verfolgungen, die die Enzyklopädisten im Geheimen arbeiten läßt. In jedem Fall erfordere gerade die Arbeit an einer solchen Enzyklopädie Diskretion und die Vermeidung von Außendruck und Beeinflussungen, wie sie sich am ehesten durch eine geheime Tätigkeit erreichen lassen.