U.
Unendliche Listen: Das Projekt einer Enzyklopädie der Toten
Danilo Kiš: »Enzyklopädie der Toten«
1 |
2 | 3 |
4
Der Stil der Enzyklopädietexte ist ausnehmend dicht und bildmächtig; er evoziert vor den Augen des Lesers die beschriebene Welt – läßt die dargestellten Ereignisse in ihrer Zeitlichkeit vor dessen Augen ablaufen. (Die ausführliche Beschreibung dessen, was man in der enzyklopädischen Bibliothek lesen kann, verbindet die Erzählung ebenfalls mit Borges-Texten.) Das Stilmittel der Auflistung – der Liste angeblicher Inhalte des gelesenen Buches – spielt eine wichtige Rolle dabei (wie auch bei den Borgesianischen Beschreibungen imaginärer Texte).
»[...] dicht aufeinander Bilder der Kindheit, sozusagen als ideographische Zeichen zusammengefaßt: Namen der Lehrer, der Kameraden, die ›schönsten Jahre‹ des Knaben in der Reihenfolge der Jahreszeiten; ein freudiges Gesicht, auf das die Tropfen eines Platzregens fallen, ein Bad im Fluß […].« (50f.)
Zu den dargestellten Personen, Orten und anderen Gegebenheiten werden ganze Inventare geboten. Die Darstellung des Gelesenen ist insofern streckenweise eine Liste von Listen.
»Wie ich schon sagte, fehlt da nichts, nichts ist weggelassen worden; weder wie die Straße aussah, noch die Farbe des Himmels, und das Inventar des Herrn Marko ist natürlich auch mit allen Einzelheiten aufgezählt. Nichts wurde vergessen, auch nicht die Namen der Autoren der alten Schulbücher und der Lesebücher voller gutherziger Ratschläge, all die belehrenden Geschichten […].« (51)
Die Leserin verfolgt so während der nächtlichen Lektüre den Lebensweg des Vaters nach, von Station zu Station, von Jahr zu Jahr. Sie gibt erzählend eine Zusammenfassung davon, betont aber deren Unzulänglichkeit.
Als Hauptmotiv der anonymen Enzyklopädisten stellt sie die Überzeugung von der Bedeutsamkeit eines jeden Einzelnen heraus (also einen Gedanken, der dem Denken und der Politik totalitärer Regimes diametral entgegengesetzt ist). Alles Einzelne ist einmalig, ist unwiederholbar (und auch mit diesem Thema des Einmaligen, Unwiederholbaren knüpft die Erzählung an die Gedankenwelt von Borges an).
»[…] das ist, so glaube ich, die grundlegende Botschaft der Verfasser der ›Enzyklopädie‹ – innerhalb der Geschichte der menschlichen Wesen wiederholt sich nie etwas, auch was auf den ersten Blick gleich aussehen mag, erweist sich kaum als ähnlich; ein jeder Mensch ist ein Stern für sich, alles geschieht gleichzeitig überall und nirgendwo, alles wiederholt sich unendlich oft und bleibt unwiederholbar. Deshalb bestehen die Verfasser der ›Enzyklopädie der Toten‹, dieses großartigen Denkmals der Verschiedenartigkeit, auf allen Einzelheiten, deshalb ist ihnen ein jedes menschliches Wesen ein Heiligtum.« (57)