U.
Unendliche Listen: Das Projekt einer Enzyklopädie der Toten
Danilo Kiš: »Enzyklopädie der Toten«

 1 | 2 | 3 | 4

Als eine Enzyklopädie aus Büchern, deren jedes für sich auf enzyklopädische Weise einen Lebenslauf darstellt, ist die »Enzyklopädie der Toten« eine Enzyklopädie der Menschheitsgeschichte. (Und zwar eine, die statt von transzendenten Instanzen von Menschen geschrieben wird.)

»Geschichte ist für das Buch der Toten die Summe menschlicher Schicksale, die Gesamtheit ephemerer Ereignisse. Deshalb ist hier jede Tätigkeit eingetragen, jeder Gedanke, jeder tätige Atemzug, jeder Auswurf ist registriert, jede Schaufel voller Schlamm, jede Bewegung, die einen Ziegelstein der Ruine bewegt.« (64)

Ähnlich wie in manchen Borgesianischen Textbeschreibungen ist das hier Beschriebene nicht wirklich vorstellbar. Es gibt eine Idealvorstellung wieder, die sich nicht realisieren läßt: die der erschöpfenden und präzisen Beschreibung eines Lebens, die der vollständigen enzyklopädischen Erfassung eines Themas – die der perfekten Enzyklopädie!

Kiš’ Text reflektiert, was Enzyklopädien wollen – nämlich ›alles‹ sagen –, indem er fingiert, er beschreibe einen Text, dem dies gelungen ist. Tatsächlich lesen wir aber ja nur die (sich selbst als unzulänglich charakterisierende) Skizze des Gelesenen durch die Erzählerin. Und so handelt der Text implizit davon, daß die ideale Enzyklopädie, die ›totale‹ Beschreibung eines Gegenstandes, nur als Gegenstand der Fiktion existiert (oder, anders gesagt: nicht wirklich existiert). Nur als Gegenstand der Fiktion stellt sich auch all das dar, was sich mit dem Projekt einer solch perfekten Enzyklopädie verbindet: die Idee einer (ausgleichenden) Gerechtigkeit gegenüber dem einzelnen, die Idee einer angemessenen Würdigung des individuellen Lebens, die Idee, niemand werde vergessen, weil ›alles‹ über ihn aufgeschrieben worden sei.

Die Lebensgeschichte des Vaters wird bis zum Tod und zum Begräbnis erzählt. (Dabei suggeriert die Geschichte über die tödliche Krankheit des Vaters und seine letzte Lebensphase u.a., daß die anonymen Biographen mehr über ihn gewußt haben – über sein Unbewußtes – als er selbst.)

Die Erzählerin, die sich bis zum Ende der Lebensbeschreibung Notizen macht, spricht abschließend nochmals von einer Liste, einer Liste aus Dingen: von der

»traurige[n] Inventur der Dinge […], die nach ihm verblieben: Oberhemd, Reisepaß, Dokumente, Brille. […] All dies ist sorgsam in der ›Enzyklopädie‹ aufgeführt, es fehlt kein Taschentuch, keine angebrochene Schachtel Zigaretten der Marke ›Morava‹, keine Nummer der Zeitschrift ›Illustrierte Politik‹, in der das Kreuzworträtsel von seiner Hand zum Teil gelöst worden war.« (73)

Gerade das Gestorben-Sein eines Menschen wird also sinnfällig, indem man inventarisiert, was von ihm geblieben ist. Und gerade vom Tod eines Menschen läßt sich erzählen, indem man entsprechende Listen anlegt, die der negativen Darstellung des an sich Undarstellbaren gelten.

Umberto Eco hat nicht nur sprachliche Aufzählungen als Listen bezeichnet, sondern auch Zusammenstellungen vieler Dinge auf Bildern oder in Installationen. Die Relikte des Vaters der Erzählerin sind eine solche Ding-Liste. Ein Künstler, den Eco selbst explizit als Schöpfer von (Ding-)Listen erwähnt, hat diverse Installationen geschaffen, die an die »Enzyklopädie der Toten« bei Kiš erinnern: Christian Boltanski.