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Schreiben auf sich verzweigenden Pfaden. Lexika von Dichtern, Büchern und Texten als Formen der Metaliteratur
I. Satirisch-humoristische Dichter-Lexikographik
2: Fritz Schönborn (= Herbert Heckmann):
»Dichterflora«

Einem ähnlichen Konzept verpflichtet wie Bleis »Bestiarium« ist die »Dichterflora«, die unter dem Pseudonym Fritz Schönborn im Jahr 1980 erschien; hier bietet die lexikographische Erschließung der Pflanzenwelt statt der Tierwelt das Organisationsmuster des Textes.
Fritz Schönborn: »Deutsche Dichterflora. Anweisungen zum Bestimmen von Stilblüten, poetischem Kraut und Unkraut«
Wiederum werden Schriftsteller porträtiert, und zwar auch hier zeitgenössische Autoren, wiederum liegt der Akzent auf deren Oeuvres, wiederum also liegt ein Stück (satirischer) Literatur über Literatur vor. Wie Franz Blei eine Vorrede geschrieben hatte, in der er seinen Einfall einer ›naturkundlichen‹ Annäherung an literarische Autoren durchspielt, so auch ›Schönborn‹ alias Heckmann, der seine Porträts durchgängig im Stil einer skurrilen Pflanzenkunde abfaßt. Aus der Vorrede: »Der literarische Pflanzenfreund« (Schönborn 1980, 7-15):

»Die wichtigste Eigenschaft, die ein Pflanzenfreund besitzen muß, ist die Geduld. Ohne sie hört er nicht das Gras wachsen, ohne sie versäumte er leicht das Aufgehen der Blüten, ohne sie macht er sich nicht die Mühe der Unterscheidung, […] In unserer Zeit, in der immer mehr die Uhren Herrschaft über uns gewinnen, ist an die Stelle hingebungsvoller Liebe hastiger Konsum getreten. Die Natur, soweit sie noch nicht verbaut, zugestellt, ausgebeutet und verplant ist, wird nachgerade zum Museum, in dem die Pflanzen unter Aufsicht botanischer Rezensenten stehen, und diese passen schon auf, daß die Freiheit nicht ins Kraut schießt und Wildwuchs nicht an den Fundamenten des Staates rüttelt.
Der Pflanzenfreund fühlt sich durch die vielen Wegweiser, Wachstumssiegerlisten und Erläuterungen eingeschüchtert. Meist weiß er gar nicht mehr, was ihm im einzelnen blüht, und da er nur in den seltensten Fällen einen kritischen Standpunkt einnehmen kann, sieht er vor lauter Eintagspflänzchen die schönen Blumen nicht, die im Verborgenen blühen. Es empfiehlt sich schon, eine Begegnung mit der Pflanze auf gleicher Ebene zu suchen […].« (Schönborn 1980, 7)
»Um eine Pflanze identifizieren und richtig einschätzen zu können, sind drei Fragen zu beantworten:
  1. Welche Blütenfarbe hat die fragliche Pflanze? Das ist oft leichter gefragt als richtig beantwortet, denn Einigkeit darüber, ob eine Blüte rot, blau, violett oder gelb ist, besteht in den wenigsten Fällen [...].
  2. Zu welcher Standortgruppe gehört der Fundort?
  3. Welche Struktur hat die fragliche Pflanze?« (Schönborn 1980, 8f.)
»Ich kenne Pflanzenfreunde, die auf Verwurzelungen nicht den geringsten Wert legen. Sie geben sich einfach mit dem zufrieden, was sie beim Ausreißen einer Pflanze in der Hand behalten. […] Das Gerede vom Entwurzelten ist nichts als eine faule Ausrede: Man hat ganz einfach keine Lust mehr zu graben.« »Neuerdings glauben gewisse Pflanzenfreunde, eine Pflanze identifizieren zu können, indem sie ihre Umwelt genau untersuchen. Sie graben alles im näheren und ferneren Umkreis einer Pflanze um und machen Bodenproben. Die Wissenschaft hat jedoch bis heute noch nicht herausgefunden, welchen Einfluß zum Beispiel der Mist auf die Form einer Pflanze hat, die auf ihm gedeiht.« (Schönborn 1980, 9)

Die Namen der behandelten ›Gewächse‹ setzen sich manchmal aus verfremdeten Schriftstellernamen und Elementen geläufiger Pflanzennamen zusammen (Ackerzwerenz, Bernharddistel, Biermannflöte, Blauer Meckel, Härtlingfächer, Heißenbüttelrose, Johnsonknöterich ...), manchmal bestehen sie auch nur aus verfremdeten Autornamen (Handkerl, Jandldadei, Lenzsiegfried).

So wie Blei sich selbst porträtiert hatte, so enthält die »Dichterflora« auch einen Artikel über das »Heckmännchen«. Anders als das »Bestiarium literaricum« ist die »Dichterflora« alphabetisch strukturiert; die Artikel folgen der ABC-Sequenz. Was das »Bestiarium literaricum« und die »Dichterflora« verbindet, ist zum einen ihr – wenn auch milde – satirischer Grundzug, zum anderen der Umstand, daß sie sich auf wirklich existierende Schriftsteller beziehen. Diese sollen und können als wirkliche Autoren wiedererkannt werden; darin liegt die Pointe.