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Schreiben auf sich verzweigenden Pfaden. Lexika von Dichtern, Büchern und Texten als Formen der Metaliteratur
(A) Borges als Wegbereiter einer Enzyklopädie fiktiver Autoren

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Das Buch, die Bücher, die Schrift und die Literatur stehen im thematischen Zentrum von Borges’ Werk. Ein anderes, damit eng verwandtes Thema ist das Imaginäre, insofern es an die sogenannte Wirklichkeit angrenzt, sie durchdringt und von ihr ununterscheidbar ist. Insofern ist es nur konsequent, wenn Borges wiederholt über imaginäre Bücher, Texte, Schriften schreibt. Die Häufigkeit und der Einfallsreichtum, mit denen Borges bei seinen Darstellungen imaginärer Bücher und Autoren vorgeht, hat bewirkt, daß er als ›Erfinder‹ der literarischen Gattung der fiktiven Buchbesprechung bezeichnet wurde, obwohl er selbst auf allerlei Vorläufer zurückblickte (und zurückgegriffen hat). Italo Calvino liefert auch gleich eine hypothetische Erklärung für die Kultivierung dieser Schreibweise durch Borges: Dieser habe damit eine eigene Schreibblockade überwunden.

»Die letzte große Erfindung einer neuen literarischen Gattung, die wir miterlebt haben, stammt von einem Meister des knappen Schreibens, Jorge Luis Borges, und war die Erfindung seiner selbst als Erzähler, das Ei des Columbus, das ihm die Blockierung zu überwinden erlaubte, die ihn bis fast zu seinem vierzigsten Lebensjahr daran gehindert hatte, von der essayistischen zur erzählenden Prosa überzugehen. Die erlösende Idee von Borges war, so zu tun, als wäre das Buch, das er schreiben wollte, schon geschrieben, geschrieben von einem anderen, einem hypothetischen unbekannten Autor, in einer anderen Sprache, einer anderen Kultur – und dieses hypothetische Buch dann zu beschreiben, zu resümieren oder zu rezensieren. Zur Borges-Legende gehört die Anekdote, daß die erste erstaunliche Geschichte, die er nach dieser Formel geschrieben hatte, Der Weg nach Almotásim, 1940, bei ihrem Erscheinen in der Zeitschrift Sur, tatsächlich für eine Rezension eines Buches von einem indischen Autor gehalten wurde.« (Calvino 1991, 74)

Borges akzentuiert in seinen Bemerkungen über die eigenen Pseudo-Kommentare imaginärer Texte seine Motive anders, wenn auch ähnlich: er habe sich der Mühsal entziehen wollen, lange Werke zu schaffen und darum in deren (Pseudo-)Kommentaren die entscheidenden Ideen in kurzer Form untergebracht.

»Ein mühseliger und strapazierender Unsinn ist es, dicke Bücher zu verfassen; auf fünfhundert Seiten einen Gedanken auszuwalzen, dessen vollkommen ausreichende Darlegung wenige Minuten beansprucht. Besser ist es, so zu verfahren, daß man so tut, als gäbe es diese Bücher bereits, und ein Résumé, einen Kommentar vorlegt. So machte es Carlyle im ›Sartor Resartus‹, so Butler in ›The Fair Heaven‹ [...] Aus größerer Gewitztheit, größerer Unbegabtheit, größerer Faulheit habe ich das Schreiben von Anmerkungen zu imaginären Büchern vorgezogen. Diese sind ›Tlön, Uqbar, Orbis Tertius‹, die ›Untersuchung des Werkes von Herbert Quain‹, ›Der Weg zu Almotasim‹.« (Borges 1970, 135)

Diese Erklärung klingt ein wenig vordergründig. Es liegt nahe, andere Motive für Borges’ Experimente mit dem Porträtieren fiktiver Autoren, der Beschreibung fiktiver Werke zu erwägen. Interessant ist es in diesem Zusammenhang, daß auch Borges (wie später Barthes und Foucault) die Idee der persönlichen Autorschaft kritisch reflektiert. Im einzelnen Autor repräsentiert ist »die Literatur«. Warum sollte sich da nicht ein Autor die Werke anderer Autoren ausdenken.

»Angenommen, jemand kopiert einen Schriftsteller Wort für Wort, so tut er es unter Ausschaltung des persönlichen Anteils, so tut er es, weil er den Schriftsteller mit der Literatur verwechselt [...]. Während vieler Jahre war ich des Glaubens, die nahezu unendliche Literatur sei in einem einzigen Menschen versammelt. Dieser Mensch war Carlyle, war Johannes Becher, war Whitman, war Rafael Cansinos Assens, war de Quincey.« (Borges 2003, 18f.)

»Der Weg zu Almotasim« (Pseudo-Rezension)
Der Text besteht aus der Beschreibung und Kommentierung eines von Borges fingierten Kriminalromans mit dem Titel »Der Weg zu Almotasim«, den der Advokat Mir Bahadur Ali aus Bombay erstmals Ende 1932 in Bombay veröffentlicht haben soll, von dem aber eine andere Fassung von 1934 existiert. Die ›Rezension‹ zitiert und kommentiert dabei andere (angebliche) Rezensenten. Die Rezension geht ausführlich auf Inhalte und Strukturen des hochkomplexen, labyrinthischen, stark intertextuell vernetzten Werks ein. Der Roman hat nie existiert, aber der Borges-Text ist so verfaßt, als gebe es diesen Roman.

»Untersuchung des Werkes von Herbert Quain«
Herbert Quain ist ein von Borges erfundener Autor, dem verschiedene Werke zugeschrieben werden, die Borges in seiner Erzählung beschreibt. Mehrfach hat Quain mit labyrinthförmigen Romanen experimentiert, deren Handlung sich in mehrere alternative Verläufe verzweigt.
Auch Herbert Quain hat nie existiert, aber Borges porträtiert ihn, als gebe es sein Werk oder als habe es dieses doch wenigstens einmal gegeben. In diesem Text verwendet er auch schon die Listenform; er schreibt Quain mehrere Werke zu, die nacheinander skizziert werden.