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Schreiben auf sich verzweigenden Pfaden. Lexika von Dichtern, Büchern und Texten als Formen der Metaliteratur
II. Die Idee eines Lexikons erfundener Autoren und Werke (als Gegenstände literarischer Fiktionen)

Man könnte sich nun ein interessantes Gegenstück zu Brams’ Lexikon erfundener Künstler vorstellen: ›ein Lexikon erfundener Dichter und Schriftsteller‹, wie es leider bisher noch nicht geschrieben wurde. Denn wie es eine Vielzahl bildender Künstler gibt, die die Welten der literarischen Texte bevölkern, so gilt Analoges auch für Literaten, Dichter, Autoren, Schreibende. Viele Werke der Literatur handeln von Figuren, die Texte verfassen, sich als Dichter betätigen, als Essayisten, als Romanciers, als Dramatiker. Oft stehen solche Schriftsteller als Protagonisten im Mittelpunkt der fiktionalen Handlung; noch öfter treten dichtende und schreibende Figuren in Nebenrollen auf. Bei der Entscheidung darüber, wer in einem solchen Lexikon zu porträtieren wäre, sollten neben schreibenden Künstlern wohl auch mündliche Erzähler und andere Repräsentanten des nicht an Schriftlichkeit gebundenen Dichtertums berücksichtigt werden. Zu erwägen wäre zudem eine ergänzende Abteilung für Kopisten von Manuskripten, für Übersetzer und für andere Figuren, deren Aufgabe es ist, Texte herzustellen – welche Texte auch immer.

Bei vielen literarischen Werken ist die Schreibtätigkeit der Figuren maßgeblich für deren Verständnis durch den Leser. Genannt seien nur zwei wichtige Gruppen innerhalb derer, die in literarischen Texten als Schreibende auftreten: Die Biographen und die Autobiographen. Viele Werke der Erzählliteratur sind als fiktive ›Biographie‹ angelegt: Eine erfundene Gestalt, die die Rolle des Erzählers übernimmt, stellt sich als Lebensbeschreiber einer anderen Figur vor, oft der Hauptfigur. In Verbindung mit den Mitteilungen über das Leben des Helden teilen solche fiktiven Biographen oft auch etwas über ihre eigene Tätigkeit als Schreibende mit: über deren Anlässe, deren Rahmenbedingungen, deren Schwierigkeiten, deren Ziele. Wie eine literarische Figur niemals mit ihrem Autor identifiziert werden darf, so sind auch solche Reflexionen und Selbstkommentare von Biographen-Figuren niemals einfach als Ausdruck einer Autor-Meinung aufzufassen, sondern sie müssen – wie die anderen Elemente und Ebenen des Werks auch – interpretiert werden. Aber sie sind – als solche Gegenstände der Interpretation – wichtige Hinweise auf Fragen, wie sie den Autor beschäftigt haben und den Leser beschäftigen sollten: Wie stellt man ein Leben dar? Was kann und was muß berichtet werden? Was leisten Biographen als Interpreten ihrer Gegenstände? Sind Charaktere angemessen darstellbar? Ist Geschichte erzählbar? Wie läßt sich die Geschichte eines Einzelnen in eine Beziehung zur Zeitgeschichte setzen?

Reflexionen über die eigene Schreibtätigkeit, aber auch indirekte Hinweise auf das Schreiben, seine Rahmenbedingungen, auf die Bedürfnisse, die im Schreiben zum Ausdruck kommen, auf die Probleme, die sich mit ihm verbinden, finden sich vielfach auch in fiktiven »Autobiographien«. Figuren, die sich dem Leser als schreibende Erzähler der eigenen Lebensgeschichte vorstellen, äußern sich oft darüber, warum sie über ihr Leben schreiben – oft haben ihre Selbstdarstellungen etwa den Charakter von Rechenschaftsberichten. Oder sie dienen dem Versuch, die eigene Vergangenheit erinnernd wiederzufinden und die vergangenen Ereignisse und Erfahrungen schreibend zu ordnen. In der Grundhaltung, aus der eine fiktive Figur heraus schreibt, aber auch in den ausdrücklichen oder unausdrücklichen Angaben, die sie im Zusammenhang damit über die eigene Schreibsituation macht, liegen wichtige Hinweise für den Interpreten des jeweiligen Textes: Wer kommt da zu Wort, was erscheint ihm oder ihr mitteilenswert? Welche Beziehungen zwischen dem beschriebenen (fiktiven) Leben und seiner Beschreibung bestehen oder werden suggeriert? Welche Bedeutung hat das Schreiben für die Figur? Geschichten vom Schreiben zeichnen sich auch in solchen Texten ab, die in der Form fiktiver Tagebücher, Briefe, Chroniken, Dokumentsammlungen, Protokolle, Reiseberichte und ähnlicher Textformen abgefaßt sind. Auch hier lohnt es sich oft zu fragen, wer aus welcher Situation und welcher Motivation heraus schreibt – und welche Haltung gegenüber dem Schreiben und dem Geschriebenen sich darin direkt oder indirekt ausdrückt.