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Schreiben auf sich verzweigenden Pfaden. Lexika von Dichtern, Büchern und Texten als Formen der Metaliteratur
(B) Stanislaw Lem als Wegbereiter einer Enzyklopädie fiktiver Autoren

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Stanislaw Lem ist ein wichtiger und innovativer Vertreter der SF-Literatur. Er schildert in seinen Werken nicht nur imaginäre Welten als Handlungsschauplätze, sondern auch und vor allem imaginäre Technologien und Wissenschaften als Bestandteile dieser Welten. Dabei nehmen seine futuristischen Phantasien über diese Technologien und Wissenschaften einer denkbaren künftigen Welt indirekt Bezug auf Tendenzen und Entwicklungen in der realen Welt. Eine Sonderform der literarischen Imagination möglicher Wissenschaften sind Imaginationen möglicher Wissensdiskurse. Lem, den man darum auch mit Borges verglichen hat, erfindet auch ›wissenschaftliche Werke‹ und kommentiert diese in seinen Texten.

»Doskonala próznia« (dt.: »Die vollkommene Leere«)
Mit diesem Buch liegt eine Kollektion von 16 auf fiktive Bücher bezogenen Rezensionen vor; die von Lem erfundenen Autoren und Titel sind: Marcel Coscat: »Les Robinsonades«, Patrick Hannahan: »Gigamesh«, Simon Merril: »Sexplosion«, Alfred Zellermann: »Gruppenführer Louis XVI«, Solange Marriot: »Rien du tout, ou la conséquence«, Joachim Fersengeld: »Perycalypsis«, Gian Carlo Spallanzani: »Der Idiot (Idiota)«, »Do yourself a book«, Kuno Mlatje: »Odysseus aus Ithaka (Odys z Itaki)«, Raymond Seurat: »Toi«, Alistair Waynewright: »Being Inc.«, Wilhelm Klopper: »Die Kultur als Fehler«, Cezar Kouska: »Die Impossibilitate Vitae; De Impossibilitate Prognoscendi«, Arthur Dobb: »Non serviam«, Alfred Testa: »Die Neue Kosmogonie (Nowa Kosmogonia)«. Diese Werke werden alle kommentiert. Auf die Titelnennung folgt meist eine fingierte Verlagsangabe, wiederholt in Form von Anspielungen oder Wortspielen wie »Suhrkampf-Verlag«.
Die fingierten Bücher entsprechen entweder literarischen Projekten, die sich Lem als SF-Autor ausgedacht, aber nicht ausgeführt hat, oder sie nehmen satirisch Bezug auf Tendenzen der Wissenschaft bzw. der wissenschaftlichen Literatur, die aber noch nicht realisiert wurden.

Eine Selbstrezension. Eines der rezensierten Bücher gibt es allerdings wirklich – nämlich das Buch »Die vollkommene Leere«. Lems Band enthält seine eigene Rezension. Es ist die allererste Rezension, die den Titel »Doskonala próznia« trägt – und damit Anlaß gibt, in Form einer Rezension das Konzept des ganzen Bandes zu umreißen. Lem über sich selbst:

»Stanislaw Lem: / Die vollkommene Leere / (›Cytelnik‹ – Warschau) Rezensionen über nicht existierende Bücher zu schreiben, ist nicht Lems Erfindung; nicht nur bei einem zeitgenössischen Schriftsteller – J. L. Borges – findet man derartige Versuche (z.B. als Besprechung des Werks von Herbert Quaine [!] in dem Band ›Labyrinthe‹), die Konzeption reicht weiter zurück, und auch Rabelais war nicht der erste, der sie anwandte. Doch ›Die vollkommene Leere‹ ist insofern einzigartig, als sie eine Anthologie ausschließlich solcher Kritiken sein will. Systematische Pedanterie oder systematischer Spaß? Man verdächtigt den Autor der spaßhaften Absicht, und dieser Eindruck wird auch durch die Einleitung nicht abgeschwächt, eine ellenlange, theoretische Einleitung, in der man liest: ›Romane zu schreiben, ist eine Form des Verlusts schöpferischer Freiheiten ... Weiterhin ist das Rezensieren von Büchern eine noch weniger edle Zwangsarbeit. Über den Schriftsteller kann man wenigstens sagen, er habe sich selbst gefesselt – durch das gewählte Thema. Der Kritiker befindet sich in der schlechteren Lage; wie ein Zwangsarbeiter an seiner Schubkarre, ist der Rezensent an das besprochene Werk geschmiedet. Der Schriftsteller verliert seine Freiheit im eigenen, der Kritiker im fremden Buch.‹« (Lem 1981, 7)

Lem, der hier behauptet, diese Unterscheidung zwischen Schriftstellerei und Kritikertum stehe im Vorwort zu seinem eigenen Buch »Die vollkommene Leere« – was insofern stimmt, als er dies ja in der Rezension als einem Quasi-Vorwort behauptet und die zitierten Sätze insofern wirklich im Vorwort stehen –, setzt sich anschließend mit dieser eigenen Behauptung sofort kritisch auseinander.

»Die Emphase dieser Vereinfachungen ist zu offensichtlich, um ernst genommen zu werden. In einem weiteren Absatz der Einleitung (›Autosoil‹) heißt es: ›Die Literatur hat uns bisher von fiktiven Gestalten erzählt. Wir gehen weiter, wir werden fiktive Bücher beschreiben. Das ist eine Chance, die schöpferischen Freiheiten wiederzugewinnen, und zugleich die Vermählung zweier kontradiktorischer Geister, des belletristischen Autors und des Kritikers.‹« (Lem 1981, 7)

Im Folgenden bespricht Lem die in seinem Buch enthaltenen fiktiven Rezensionen, kommentiert sie und stellt ›Vermutungen‹ über ihren Sinn an.

»Das ›Autosoil‹, führt Lem weiter aus, soll die freie Schöpfung ›zum Quadrat‹ sein, denn der Kritiker des Textes werde, ist er erst in diesen Text eingeführt, mehr Manövrierfähigkeit haben als der Erzähler der traditionellen oder nicht traditionellen Literatur.« (Lem 1981, 7f.)

Der Vorredner kritisiert Lem mehr, als daß er ihn lobte, wobei er u.a. bemerkt, »daß diese gelehrte Einleitung [die ja die in Lems Buch ist] irgendwie nicht zu Ende kommt« (Lem 1981, 8). Er ›widerspricht‹ Lem auch bei der Gliederung:

»[...] ›Die vollkommene Leere‹ besteht aus Pseudorezensionen, die nicht nur eine Sammlung von Witzen sind. Ich möchte sie im Gegensatz zum Autor in drei Gruppen aufteilen:
1. Parodie, Pastiche und Spott. Hierzu gehören die ›Robinsonaden‹, ›Nichts oder die Konsequenz‹ (beide Texte verhöhnen auf verschiedene Weise den Nouveau Roman), eventuell noch ›Du‹ und ›Gigamesh‹. Zwar ist die Position bei ›Du‹ ziemlich risikoreich, denn sich ein schlechtes Buch auszudenken, das man verreißen kann, weil es schlecht ist, wirkt allzu billig. Formal am originellsten ist der Roman ›Nichts oder die Konsequenz‹, weil bestimmt niemand ihn schreiben könnte, der angewandte Trick der Pseudorezension erlaubt also ein akrobatisches Kunststück: die Kritik eines Buches, das es nicht nur nicht gibt, sondern auch nicht geben kann. ›Gigamesh‹ hat mir am wenigsten gefallen. Es geht darum, daß die Sonne alles an den Tag bringt. Aber lohnt es sich wirklich, mit derartigen Witzen Meisterwerke abzutun? Vielleicht, wenn man selbst keine schreibt.« (Lem 1981, 8)

Soviel zur ersten Gruppe. Kommentiert wird auch eine zweite in der Rezension (Einleitung) genannte Textsorte:

»2. Skizzen und Kladden [...] wie ›Gruppenführer Louis XVI.‹, ›Der Idiot‹ und auch ›Die Frage des Tempos‹. Jede von ihnen könnte [...] der Embryo eines guten Romans sein. Aber diese Romane müssen erst geschrieben werden. Eine Inhaltsangabe, ob kritisch oder nicht, ist schließlich doch nur eine Vorspeise, die uns Appetit auf das in der Küche nicht vorhandene Hauptgericht macht. Warum ist es nicht vorhanden? Eine Kritik mit Unterstellungen ist unfair, aber ich will sie mir einmal gestatten. Der Autor hatte Einfälle, die er nicht in vollem Umfang zu realisieren vermochte; er konnte sie nicht niederschreiben, und es tat ihm leid, sie nicht niederzuschreiben – das ist die ganze Genesis dieses Teils der ›Vollkommenen Leere‹. Intelligent genug, gerade diesen Vorwurf vorauszusehen, hat Lem beschlossen, sich durch die Einleitung zu tarnen. Deshalb spricht er im ›Autosoil‹ von der Armseligkeit der Prosawerkstatt, von der Handwerkerarbeit des Schnitzens an den Beschreibungen, ›um fünf Uhr verließ die Marquise ihr Haus‹. Doch eine gute Werkstatt ist nicht armselig. Lem schrak zurück vor den Schwierigkeiten, die jeder der drei von mir als Beispiel genannten Titel in sich barg. Er zog es vor, nichts zu riskieren, er hat sich gedrückt, er ist ausgewichen. Indem er sagt, jedes Buch sei ›ein Grab zahlloser anderer, die es vernichtet, verdrängt hat‹, deutet er an, daß er über mehr Einfälle verfügt als über biologische Zeit (ars longa, vita brevis). Aber so viele bedeutsame, vielversprechende Einfälle hat er in der ›Vollkommenen Leere‹ gar nicht. Es gibt dort Geschicklichkeitsbeweise, die ich erwähnt habe; dann aber weicht er in Späße aus. Ich vermute etwas Ernsthafteres, nämlich – eine nicht zu verwirklichende Sehnsucht.« (Lem 1981, 8f.)

Selbstinterpretation als poetische Liste. Das Buch Lems interpretiert sich durch seine eigene ›Rezension‹ als ›poetische Liste‹. Die einleitenden Bemerkungen kommentieren die folgenden Texte – die als Rezensionen zu imaginären Werken ja eine »Liste« von (imaginären) Gegenständen bilden – als Hinweis auf etwas, das über die Aufzählung und über das Aufgezählte selbst hinausgeht: auf mögliche Bücher, auf bessere Bücher, auf ersehnte Bücher.
Lem weiter:

»3. Die Überzeugung, daß ich mich nicht irre, entnehme ich der letzten Gruppe von Werken in diesem Band, nämlich solchen wie ›De Impossibilitate Vitae‹, ›Die Kultur als Fehler‹ und – besonders! – ›Die Neue Kosmogonie‹. ›Die Kultur als Fehler‹ stellt Anschauungen auf den Kopf, die Lem mehr als einmal verkündet hat, sowohl in seinen belletristischen als auch in seinen diskursiven Büchern. Die Eruption der Technologie, dort als Liquidatrix der Kultur gebrandmarkt, wird hier zur Befreierin der Menschheit erhoben.« (Lem 1981, 9f.)

Wird hier registriert, daß Lem anläßlich der fingierten Bücher gegen die Anschauungen verstoße, die er sonst vertritt, so daß diese ein Werk repräsentieren, das einen Gegenentwurf, eine Gegen-Weltanschauung zu Lems sonstigem Denken und Schreiben bildet, so trifft dies offenbar auch auf ein weiteres Werk zu:

»Zum zweiten Mal erweist sich Lem in ›De Impossibilitate Vitae‹ als Apostat. [Es gehe] um einen Angriff auf Lems Allerheiligstes, auf die Wahrscheinlichkeitstheorie, auf den Zufall also, auf die Kategorie also, die seinen verschiedenen Konzepten zugrunde liegt.« (Lem 1981, 10)