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Schreiben auf sich verzweigenden Pfaden. Lexika von Dichtern, Büchern und Texten als Formen der Metaliteratur
V. Mögliche Bücher – einige bilanzierende Überlegungen

Eine katalogartige Beschreibung fingierter Bücher ist eine Darstellung möglicher Bücher – im Sinne von: ›erdenkbarer‹ Bücher; ob sie realisierbar sind, wird man im Einzelfall entscheiden müssen (wenn es sich denn entscheiden läßt). Denn die Form der Darstellung eines fingierten Buchs kann auch gewählt werden, um de facto unrealisierbare Bücher zu beschreiben – wie es bei Borges mehrfach geschieht. ›Mögliche Bücher‹ können auch beschrieben werden, um Platzhalter nicht-realisierter Bücher zu sein, um Ideen, die solchen nicht-realisierten Büchern zugrunde liegen würden, schon einmal auszuformulieren oder zu skizzieren. So kann es sein, daß ein Schriftsteller sich eine Liste mit Notizen zu Texten macht, die er noch schreiben will oder doch schreiben könnte. (Auch das ist ›metaliterarisch‹, weil es die Reflexion über mögliche Werke voraussetzt.) Solche Platzhalter können auch erfunden werden, weil es dem Autor, der die Idee hat, an Zeit, Kraft oder Talent fehlt – oder weil es ihm zu umständlich und langweilig erscheint, seine Idee in ein komplettes Werk umzusetzen.

Unter den Listen, Katalogen oder Lexika imaginärer Bücher bzw. imaginärer Autoren lassen sich ›pragmatische‹ und ›poetische‹ Listen unterscheiden.

  1. Die ersten dienen dazu, in ernsthafter oder verspielter Form eine gewisse Zahl von Werken oder Autoren darzustellen, die entweder ganz frei erfunden sind oder die doch wenigstens die verfremdeten, weil literarischen Doubles von wirklichen Autoren sind – um dem Leser einen Überblick über bestimmte Fälle von erfundenen oder realen Werken oder Autoren zu geben. Über bestimmte Fälle, die es schon ›gibt‹: über fingierte Werke und Autoren, die von anderen Schriftstellern erfunden und beschrieben worden sind – und die insofern als literarische Gegenstände bereits existieren. Das ›pragmatische‹ an solchen Listen ist, daß man auch dann, wenn sie eine literarisch verspielte Form haben, aus ihnen Informationen ziehen kann: über das, was sich manche Schriftsteller an literarischen Autoren oder Werken ausgedacht haben, oder über bestimmte reale Autoren, die existieren und die nun aus einer bestimmten Perspektive bzw. Haltung heraus charakterisiert werden.
  2. Die anderen, die ›poetischen‹ Auflistungen, Katalogisierungen und Lexika fingierter Werke und Autoren wären demgegenüber dazu da, um über sich selbst hinauszuverweisen, um durch Aufzählung einer notgedrungen begrenzten Menge von imaginären Werken auf andere hinzuweisen, die nicht beschrieben werden und die vielleicht nicht einmal beschreibbar sind. Ja, die vielleicht nicht einmal schreibbar sind. Poetische Kataloge weisen hin auf Grenzen der Darstellung und des Darstellbaren, auf das, was über positive Repräsentationen hinausgeht.

Beide, die pragmatischen wie die poetischen Listen, sind als Meta-Literatur, sind als Literatur über Literatur betrachtbar.

  1. Die ›pragmatischen‹, also die, die eine Übersicht über als Figuren existierende Autorenfiguren in der Literatur, über literarisch fingierte Werke geben, haben natürlich zunächst einmal informative Zwecke. Aber wenn die Information auf ästhetische Weise vermittelt wird, etwa gerahmt durch ein Vorwort, das die porträtierten Autoren und Werke wie reale Gegenstände behandelt, dann läßt sich ein solches Lexikon auch selbst als ›literarischer Text‹ lesen, und damit als ›Literatur über Literatur‹ (weil er ja von Literatur spricht).
  2. Einen ›pragmatischen‹ Grundcharakter haben auch satirische Autorenlexika, die sich auf reale Autoren beziehen; sie ›informieren‹ ja, wenngleich in der Form satirischer Verfremdung, über diese Autoren. Als Satiren wollen sie – und sei es spielerisch – Erkenntnisse und Einsichten vermitteln, über die behandelten Autoren ›aufklären‹.
  3. ›Poetische‹ Autoren- und Werk-Verzeichnisse sind insofern meta-literarisch, als sie über ›mögliche‹ Literatur sprechen (wenngleich sie über diese auch hinausverweisen). Sie entwerfen mögliche Literatur mit literarischen Mitteln, sind also insofern ›Literatur über Literatur‹.