A.
Ausgangsüberlegungen:
Literatur als Reflexion über Wissen
Das Alphazet
Lexikographisches Schreibprojekt und alphabetische Poetik
»Die Nassrasur fordert zu Deutungen heraus und ist auf sie angewiesen, weil sie über einen Status verfügt, den es zu verteidigen gilt. Sie teilt dieses Schicksal mit der Literatur, die zwar Deutungen vorschlägt, aber sie mit derselben Vehemenz zurücknimmt, sobald sie ihrer ansichtig wird. Die Ethik der Nassrasur, einmal in die Literatur eingeführt, verlangt nichts weiter als das allmorgendliche Beiseitebringen der Gedanken und Wörter. Dass es zu letzterem nichts weiter braucht als ein gut gebautes ABC, ist das Glück der Wörter. Aber auch die Gedanken könnten sich damit anfreunden, auf diese Weise entsorgt zu werden.«
Artikel NASSRASUR, in: Paul Mersmann / Ulrich Schödlbauer: DAS ALPHAZET. / Ausschweifende / etceterarische / Grundbegriffe / unter Mitwirkung von Anne Corvey. http://www.das-alphazet.de; https://das-alphazet.iablis.de; Zeichner: Paul Mersmann; Autor: Ulrich Schödlbauer; namentlich gezeichnete Beiträge: AC = Anne Corvey; PM = Paul Mersmann (Stand: 12. Februar 2016)

Soweit eine der vielen Auskünfte, die der Leser dem als alphabetische Artikelfolge verfassten »Alphazet« entnimmt und auf die er vielleicht zunächst mit einer gewissen Irritation reagiert. Akzeptieren wir einmal die These einer spezifischen ›Ethik‹ der Nassrasur (ein großes Wort für eine banale Tätigkeit – vgl. Ulrich Schödlbauer: Die Ethik der Nassrasur. Erzählungen, 1997), akzeptieren wir auch die Analogisierung zwischen dem ›Beiseitebringen‹ von Bartstoppeln hier, Gedanken und Wörtern dort (wie leicht lassen sich Gedanken und Wörter wegfegen?), so erscheint es doch zumindest auf den ersten Blick überraschend, in einem solchen Beiseitebringen und Entsorgen ein Geschäft der Literatur zu sehen. Rasur statt Poiesis? Lässt man sich auf die Logik des Sprachbildes erst einmal ein, so gewinnt die Idee regelmäßiger Entsorgung freilich bald an Plausibilität, ist sie doch mit der der Freilegung verknüpft (und sei es auch nur der einer ›sozialen Maske‹), mit Gesichtspflege als einem latent symbolischen Tun ... und mit Entstoppelung in welch metaphorischem Sinn auch immer.
Die Nassrasur, so erfährt der Leser des Alphazet-Artikels »Nassrasur« ferner, habe rituellen Charakter und überdaure nur als Ritual: »Man kann aus jeder Form der Rasur ein Ritual machen, jedenfalls ein kleines, wie aus all diesen alltäglichen Verrichtungen, deren Aufwände man niemals addiert, weil einem beim bloßen Gedanken daran schwindlig wird. Mit der Nassrasur hat es eine eigene Bewandtnis. Sie ist ein Ritual, kein Zweifel, sie überdauert ausschließlich als dieses Ritual, das heißt, sie verwandelt den Zweck der Übung, die tägliche Herstellung der sozialen Maske, in einen Nebeneffekt.« (Selbst-)ironisch erinnert hier ein literarischer Text an die eigene Indifferenz gegenüber praktischen Zwecken; das literarische Schreiben verweist auf den eigenen ›rituellen‹ Charakter (bei dem dann immerhin eine Art Gesicht gepflegt würde). Wird schließlich ein »gut gebautes ABC« als Hilfsmittel bei der Entsorgung von Wörtern und Gedanken gewürdigt, so ist die Autoreferenzialität eines solchen Hinweises innerhalb eines abecedarischen Textes gar nicht zu übersehen. Ist das »gut gebaute ABC«, das »es (...) braucht«, nun ein Rasiermesser? Oder ein Auffangbecken für die Stoppeln? An dieser Stelle angekommen, mag sich der Leser, der schon zu wissen glaubte, was eine Nassrasur ist, fürs erste rasiert fühlen.

Das »Alphazet«, eine alphabetische Artikelsequenz zu mehr als 890 Stichwörtern (Stand der von mir konsultierten Fassung 02/2016: 895; Stand 04/2016: 896), kombiniert mit Bildinitialen, die jeweils den Beginn eines neuen Abschnitts im Alphabet markieren, ist aus der Zusammenarbeit von Ulrich Schödlbauer (US), Paul Mersmann (PM) und Anne Corvey (AC) hervorgegangen. Von ersterem stammt die überwiegende Zahl der Artikel; das Autorenteam verbindende Interessen sind insgesamt unübersehbar.

Die Arbeit am »Alphazet« begann 2008, ausgehend von Ulrich Schödlbauers Anregung, die A.B.C.-Bücher Paul Mersmanns im Netz fortzusetzen. Seiner Konzeption nach bietet das Netz-Alphabet den Artikelverfassern die Chance, ohne zeitlichen Rahmen und ohne umfangmäßige Begrenzung Wörter vorzustellen und zu kommentieren – und zwar sowohl neu erfundene als auch solche, die dabei einer neuartigen Interpretation unterzogen werden. Der überwiegende Teil der Alphazet-Artikel stammt von Ulrich Schödlbauer: Paul Mersmann (PM) verfasste eine Reihe weiterer Artikel, insbesondere zu Gegenständen aus dem Bereich Kunst/Ästhetik, sowie insbesondere die Zeichungen zu den Buchstaben des Alphabets. Anne Corvey trug eine kleine Zahl weiterer Artikel bei. Das thematische Spektrum der Beiträge hat sich bedingt durch Schödlbauers Arbeit am »Alphazet« seit der Frühphase des Projekts erheblich ausgeweitet. (Für Hinweise zur Geschichte des »Alphazet« danke ich Renate Solbach.)

Als alphabetisch-lexikographischer Text betreibt das »Alphazet« Mimikry an eine Textform, deren Erfolgsgeschichte eng mit der Geschichte der bürgerlichen Wissensgesellschaft verknüpft ist. In seinen verschiedenen Spielformen – von der vielbändigen Enzyklopädie bis zum komprimierten Handlexikon, vom Kompendium für Spezialisten bis zum Konversationslexikon für alle, von der primär faktographischen Informationsquelle bis zum Wörterbuch – hat das alphabetische Lexikon die Wissens- und Kulturgeschichte geprägt. Es ist auf entsprechend komplexe, teilweise spannungsvolle Weise semantisiert.