Soweit eine der vielen Auskünfte, die der Leser dem als
alphabetische Artikelfolge verfassten »Alphazet« entnimmt und auf
die er vielleicht zunächst mit einer gewissen Irritation reagiert.
Akzeptieren wir einmal die These einer spezifischen ›Ethik‹ der
Nassrasur (ein großes Wort für eine banale Tätigkeit – vgl.
Ulrich Schödlbauer: Die Ethik der Nassrasur. Erzählungen, 1997),
akzeptieren wir auch die Analogisierung zwischen dem
›Beiseitebringen‹ von Bartstoppeln hier, Gedanken und Wörtern
dort (wie leicht lassen sich Gedanken und Wörter wegfegen?), so
erscheint es doch zumindest auf den ersten Blick überraschend, in
einem solchen Beiseitebringen und Entsorgen ein Geschäft der
Literatur zu sehen. Rasur statt Poiesis? Lässt man sich auf die
Logik des Sprachbildes erst einmal ein, so gewinnt die Idee
regelmäßiger Entsorgung freilich bald an Plausibilität, ist sie
doch mit der der Freilegung verknüpft (und sei es auch nur der einer
›sozialen Maske‹), mit Gesichtspflege als einem latent
symbolischen Tun ... und mit Entstoppelung in welch metaphorischem
Sinn auch immer.
Die Nassrasur, so erfährt der Leser des
Alphazet-Artikels »Nassrasur« ferner, habe rituellen Charakter und
überdaure nur als Ritual: »Man kann aus jeder Form der Rasur ein
Ritual machen, jedenfalls ein kleines, wie aus all diesen
alltäglichen Verrichtungen, deren Aufwände man niemals addiert,
weil einem beim bloßen Gedanken daran schwindlig wird. Mit der
Nassrasur hat es eine eigene Bewandtnis. Sie ist ein Ritual, kein
Zweifel, sie überdauert ausschließlich als dieses Ritual, das
heißt, sie verwandelt den Zweck der Übung, die tägliche
Herstellung der sozialen Maske, in einen Nebeneffekt.«
(Selbst-)ironisch erinnert hier ein literarischer Text an die eigene
Indifferenz gegenüber praktischen Zwecken; das literarische
Schreiben verweist auf den eigenen ›rituellen‹ Charakter (bei dem
dann immerhin eine Art Gesicht gepflegt würde). Wird schließlich
ein »gut gebautes ABC« als Hilfsmittel bei der Entsorgung von
Wörtern und Gedanken gewürdigt, so ist die Autoreferenzialität
eines solchen Hinweises innerhalb eines abecedarischen Textes gar
nicht zu übersehen. Ist das »gut gebaute ABC«, das »es (...)
braucht«, nun ein Rasiermesser? Oder ein Auffangbecken für die
Stoppeln? An dieser Stelle angekommen, mag sich der Leser, der schon
zu wissen glaubte, was eine Nassrasur ist, fürs erste rasiert
fühlen.
Das »Alphazet«, eine alphabetische Artikelsequenz zu mehr als 890 Stichwörtern (Stand der von mir konsultierten Fassung 02/2016: 895; Stand 04/2016: 896), kombiniert mit Bildinitialen, die jeweils den Beginn eines neuen Abschnitts im Alphabet markieren, ist aus der Zusammenarbeit von Ulrich Schödlbauer (US), Paul Mersmann (PM) und Anne Corvey (AC) hervorgegangen. Von ersterem stammt die überwiegende Zahl der Artikel; das Autorenteam verbindende Interessen sind insgesamt unübersehbar.
Die Arbeit am »Alphazet« begann 2008, ausgehend von Ulrich Schödlbauers Anregung, die A.B.C.-Bücher Paul Mersmanns im Netz fortzusetzen. Seiner Konzeption nach bietet das Netz-Alphabet den Artikelverfassern die Chance, ohne zeitlichen Rahmen und ohne umfangmäßige Begrenzung Wörter vorzustellen und zu kommentieren – und zwar sowohl neu erfundene als auch solche, die dabei einer neuartigen Interpretation unterzogen werden. Der überwiegende Teil der Alphazet-Artikel stammt von Ulrich Schödlbauer: Paul Mersmann (PM) verfasste eine Reihe weiterer Artikel, insbesondere zu Gegenständen aus dem Bereich Kunst/Ästhetik, sowie insbesondere die Zeichungen zu den Buchstaben des Alphabets. Anne Corvey trug eine kleine Zahl weiterer Artikel bei. Das thematische Spektrum der Beiträge hat sich bedingt durch Schödlbauers Arbeit am »Alphazet« seit der Frühphase des Projekts erheblich ausgeweitet. (Für Hinweise zur Geschichte des »Alphazet« danke ich Renate Solbach.)
Als alphabetisch-lexikographischer Text betreibt das »Alphazet« Mimikry an eine Textform, deren Erfolgsgeschichte eng mit der Geschichte der bürgerlichen Wissensgesellschaft verknüpft ist. In seinen verschiedenen Spielformen – von der vielbändigen Enzyklopädie bis zum komprimierten Handlexikon, vom Kompendium für Spezialisten bis zum Konversationslexikon für alle, von der primär faktographischen Informationsquelle bis zum Wörterbuch – hat das alphabetische Lexikon die Wissens- und Kulturgeschichte geprägt. Es ist auf entsprechend komplexe, teilweise spannungsvolle Weise semantisiert.