A.
Ausgangsüberlegungen:
Literatur als Reflexion über Wissen
Das Alphazet
Das Buchstäbliche und sein Grund

Eine Poetik des Schreibens also – im »Alphazet« formuliert, durch das »Alphazet« repräsentiert, ja ›inszeniert‹ – mit den Artikel als den einzelnen Akten, in denen sich Unterschiedliches abspielt, die zusammen aber doch ein Stück ausmachen, eines von denen, allerdings, die prinzipiell nie fertig sind. Wer sind die Akteure?

Die kritische Aufmerksamkeit des »Alphazet« erstreckt sich von der Buchstabenreihe über die Wörter bis zu den Begriffen und Diskursen. Einzelne Zeichen wie das ›scharfe S‹ entgehen ihr nicht (»Wer z.B. ist sich beim Schreiben bewusst, dass nicht allein die Kommata sich der staatlichen Vorratshaltung verdanken, sondern eine so wunderbare Sinnlosigkeit wie das ›scharfe S‹ ohne Hintergedanken der Macht praktisch bereits ausgestorben wäre?« – FÖRDERWILLE); es geht gleichsam kein Iota verloren, und selbst VERLORENE BUCHSTABEN finden sich in einem ihnen eigens gewidmeten Artikel wieder. Die Einsicht, dass es auch und gerade auf das Buchstäbliche ankommt, mag ein kabbalistisches Erbe sein; sie wird aber vor allem durch die Präsenz der Buchstabenreihe stimuliert.

»Vom einfachen Verrücken der Buchstaben zur Buchstabenverrückanstalt geht DER WEG. Wer ihn beschreitet, gewinnt wenig, aber verändert vieles, manche sagen alles, doch diese wissen nicht, was sie sagen (...). Ein verrückter Buchstabe ist wie eine wohlgeratene Antwort. Man schaut sie an und wundert sich, wie sie es unter die eigenen Augen geschafft hat, danach verbannt man sie aus dem Bewusstsein.« (VERRÜCKANSTALT, PM)

Buchstaben also – und was das »Alphazet« an Poetik zu bieten hat, entwickelt sich sehr evident aus dem Alphabet, wie sich hier alles aus den Buchstaben entwickelt, zu denen Paul Mersmann zu Beginn einer jeden Artikelgruppe die entsprechende Initiale gestaltet hat. (Zu den Initialen vgl. insgesamt Paul Mersmanns in den 1980er Jahren entstandenen Alphabete – »Ikonographisches A.B.C.«, »Das Tautognomische A.B.C.«, »Wasserlösliche Zwischenstufen der Heilkunst«, »Wasserlösliche Zwischenstufen der Baukörper« – sowie die »Sechsundzwanzig Blätter zur Förderung der Legendenbildung um Gutenberg«.) Wo Buchstaben sich als Protagonisten präsentieren – siehe Benjamins Fibel-Essay (Chichleuchlauchra) – da lösen sie sich manchmal aus allen Wortverbünden und präsentieren sich im Alleingang. Der erste Alphazet-Artikel (von PM gezeichnet) handelt vom A – analog zu Alberto Savinios »Privater Enzyklopädie,« die mit einem von Savinio gezeichneten Signor a beginnt. Hier erfährt man nicht allein von der historischen Kontingenz, der das A seine prominente Position im Alphabet verdankt (vom »strikten Ordnungseifer Thomas von Aquins«), dessen ›wirkliche Reihenfolge‹ niemand kenne; betont wird auch der konstellative Charakter aller Ordnungsmuster, die auf sprachlichen Bezeichnungen, auf Namen und Begriffen beruhen. Alphabet und Sternenhimmel, aus deren Elementen sich seit alters her zusammensetzt, was gelesen werden will, treten in eine Beziehung, die zugleich metaphorisch und metonymisch erscheint.

»Man kann Gestirne der Sprache nicht regeln. Man bedenke, das Alphabet war einmal auf mehreren mondhaften Schlitten über den Milchbart eines höheren Gottes hinabgefahren. In süßen Strömen flossen die Buchstaben zur Namensstiftung von Sternschnuppen und anderen Hustenanfällen des Himmels nieder in die frühesten Fangnetze aller wahrhaft großen Stiftungen (...).«

Freilich: im »Alphazet« geht es nicht zuletzt auch wiederholt um Versuche der Reglementierung dieser ›Gestirne‹.

Auch Schriftzeichen gehören zum ›Buchstäblichen‹, und das KOMMA bekommt einen eigenen Alphazet-Artikel. Im Spiegel seiner Beschreibung ist es mehr und anderes als ein funktionales Interpunktionszeichen, dessen Gebrauch einer orthographischen Norm unterliegt: Die Setzung von Kommata erscheint als eine Geste, die der Schreibende seinem fast fertigen Text widmet, als eine Phase des Gestaltungsprozesses, die eigene Signifikanz besitzt, weil sie sich im Rahmen optionaler Entscheidungen abspielt. Kommas markieren Leerstellen, Zwischenräume, ›verborgene Orte‹, Ruhepunkte, Gegengewichte zur »Plappersucht«, »Vertiefungen« (wobei man nicht nur an räumliche Vertiefungen zwischen je zwei Wörtern denken mag).

»Im Komma erscheint die volle List des Schreibens noch einmal, deshalb setzen es manche Leute erst später, gleichsam bei vollem Blatt. Sie erspähen die leeren Stellen zwischen den Wörtern, die verborgenen Orte, vorherbestimmt, das verschwiegene Zeichen in sich aufzunehmen, das die anderen redend macht. Oder fast: denn reden können sie schon, sie reden von sich ohne Unterlass, wären sie nicht redend, dann schwiegen sie vielleicht und das Zeichen verschwände. Es machte kehrt – auf dem Absatz, so könnte man sagen, denn sprechend wird es von sich aus nur vor vollem Haus. So aber, der Plappersucht der anderen gegenwärtig, lässt es sich geduldig hin- und herschieben, bis die leichte Vertiefung gefunden ist, in der es zur Ruhe kommt, weil sie ihm vorbestimmt ist. Das zu ertasten kostet Geduld. Es gibt Sprachen, so sagt man, die keines Kommas bedürfen. Das ist nicht wahr, oder nur beinahe, denn wer das Komma kennt, erkennt es auch dort, wo es nicht gesetzt ist, sondern nur gedacht oder auch nicht gedacht, vielleicht gefühlt oder, wer weiß, gesehen. Ein solcher Gedanke erfreut das mit Widerhaken wie mit Sternzeichen besetzte Gemüt und schafft einen Ausgleich für die Unbill, die ihm täglich begegnet.« (KOMMA)

Insgesamt steht das »Alphazet« vor allem im Zeichen des Nachdenkens über Wörter. »»Angenommen also...« – Was ist das überhaupt, eine Annahme?«: Der Eintrag zum Stichwort ›Annahme‹ beginnt typisch, indem er zugleich mit der Erläuterung zur Semantik dieses Worts auch schon ein kleines Spiel mit ihm einleitet, von der Bahn des neutralen Worterklärers abweichend: Hat jemand, der anlässlich des Worts ›Annahme‹ selbst ›Annahmen‹ macht, zu seinem Gegenstand überhaupt die nötige Distanz? Oder verstrickt er sich und seinen Leser in Annahmen?

Aus dem Artikel ANNAHME (US):

»Was ist das überhaupt, eine Annahme? Doch wohl die Entgegennahme eines adressierten Gegenstandes, einer ›Sendung‹. Aber nicht irgendeine Entgegennahme, bewahre, vielmehr eine, die (...) durch Recht und Gesetz geregelt ist... Das sind ein wenig viel Annahmen für so eine kleine Annahme, die leicht durch die Maschen schlüpft und mit unterläuft, wie man sagt. Angenommen also, es fände sich ein Briefträger und er hätte recht mit der Annahme, den rechtmäßigen Abnehmer seiner Sendung vor sich zu haben, und die Annahme erfolgte nach Recht und Gesetz: (...) so könnte man sich ja bequem über die Inhalte beugen und darüber die Kautelen des Empfangens vergessen. Aha! Man muss also vergessen, um zu begreifen, worum es in der Sendung geht. Aber angenommen, man kann nicht vergessen...?«)

Wer sich auf Wörter einlässt, kann Überraschungen erleben, die bis zum Schwindel gehen – etwa wenn sich das ›Drehbuch‹ unversehens als »drehbare(s) Buch« erweist (Art. DREHBUCH). Auch das Lemma STICHWORT bietet sich zu einer wörtlichen Auslegung mit Irritationspotentialen an (»Stich, Wort! Und nicht zu knapp.«, Art. STICHWORT). – Wörter-Welten werden aus verschiedenen Perspektiven betrachtet: aus der des Beobachters und der des Benutzers, der des Kritikers und der des Liebhabers. Es geht um Wortwiederholungen und ihre Effekte (»Das Wiederholen der Wörter, ihre zweite Chance, tönt sie ab, tönt sie neu: wie den Klang, so den Sinn.« – Art. WIEDERHOLEN), um den Wortekel (der, aus dem »Wortrausch« entstanden, eine »mindere Form des Weltekels« und »darum nicht wirkungslos« ist; vgl. Art. WORTEKEL); es geht um den WORTGLANZ (um etwas, das sich ausgehend von der »Gestalt des Wortes«, »als ein zartfarbener, manchmal auch bunt geränderter Fleck vor dem Angesicht jedes Sprechenden« zeigen kann (Art. WORTGLANZ, PM). Und es geht – immer wieder –um die Doppelbödigkeit von Wörtern, deren Befremdlichkeit, die sich etwa anlässlich des Stichworts ›Befremden‹ erörtern lässt.

»Das ist ein schönes Wort: befremden, ein Wort voller Heimtücke, voller Fußangeln, voller Blaff und Bluff, ein Radauwort auf leisen Sohlen, ein Fortgänger im Ankommen, ein Unbelangbarer.« (Art. BEFREMDEN)

Skepsis hegt das »Alphazet« gegenüber sogenannten ›Grundbegriffen‹, die allenfalls den Anschein erwecken, feste Bezugspunkte des Denkens, Sprechens, Schreibens zu sein; die haben, so die Diagnose, etwas Unbestimmtes, etwas »Etzeterarisches«. Etwas an ihnen entzieht sich dem Zugriff – und der Erwartung, mittels ihrer auf anderes zugreifen zu können (was das Wort ›Begriff‹ zu verheißen scheint). Sie sind nichts Einfaches und insofern ›Fundamentales‹, sondern etwas Zusammengesetztes, Abgeleitetes. Und sie sind, bildlich gesprochen, beweglicher als es scheint. Vor allem der Artikel ›Alphazet‹, der, unter ebendiesen Titel gestellt, als eine mise-en-abyme des ganzen »Alphazet« gelten kann, setzt sich mit den sogenannten Grundbegiffen auseinander, die am vermeintlichen Grunde wandern wie die legendären Steine am Grunde der Moldau.

»Man darf das Etzeterarische der Grundbegriffe nicht willkürlich übertreiben, doch man darf es auch nicht verkleinern. Sie werden nachgeliefert, daran besteht kein Zweifel. Niemand beginnt mit ihnen, wo käme er denn da hin? Grundbegriffe führen nirgendwohin, wer auf dumme Gedanken kommt, kann ihnen nachgehen, aber nur vage, auf unbestimmte Zeit (...). Eher gehen sie einem nach, in ihrer eigenen Ordnung und in ihrem eigenen Rhythmus. Doch keiner sollte darauf vertrauen, dass sie schon nachkommen, man kann sich da arg täuschen (...). Viele halten es mit der Ansicht, Grundbegriffe seien einfache Begriffe, aus denen sich die anderen dann zusammensetzen. Das ist keine Täuschung, das ist eine Dummheit. Grundbegriffe sind, wie ihre Bezeichnung, zusammengesetzte Begriffe, jeder von ihnen enthält das volle Alphazet, aber in der Nussschale. Man blickt auf sie wie auf die Steine auf dem Grunde des Wassers, die Gedanken fließen darüber weg und sie liegen ruhig auf ihrem Platz, aber das scheint nur so. Auch sie wandern, wie der Dichter schreibt, mit unterschiedlicher Geschwindigkeit und in unterschiedliche Richtung, und nicht nur am Grunde der Moldau, das ist ganz normal.« (ALPHAZET)

Wandern Steine am Grunde wirklich? Spätestens, wenn das Bild in humoristisch modifizierter Form wiederkehrt (als Bild von wandernden Pflaumen), wird dem Alphazetisten die eigene Ausdrucksweise zum Anlass kritischer Erörterung:

»Am Grunde des Kuchens wandern die Pflaumen. Man sagt, sie wandern, aber das ist ein komisches Wort, recht betrachtet, dafür, von der großen Bewegung so wenig bewegt zu werden. Eher könnte man sagen, der gewaltige Kuchenleib gehe über sie weg und sie rührten sich ein wenig im Schlaf.« (VERSUNKENE PFLAUMEN)