A.
Ausgangsüberlegungen:
Literatur als Reflexion über Wissen
Das Alphazet
Die fünf Verlockungen

Für schriftstellerische Erkundungen erscheint dieses Textformat aus verschiedenen Gründen interessant:
Erstens wegen der Artikelform: Sie motiviert zu einem komprimierenden Schreib- und Denkstil, zu knappen Formaten zwischen Aphorismus und kurzem Essay. Eine stilistische Orientierung an jenem Konzept des Fragments, das Friedrich Schlegel mit dem Bild des ›Igels‹ charakterisiert hat, liegt zumindest nahe: »Ein Fragment muss gleich einem kleinen Kunstwerk von der umgebenden Welt ganz abgesondert und in sich selbst vollendet sein wie ein Igel.« (Friedrich Schlegel, KSA II 197) –
Zweitens wegen der Kontingenz der alphabetischen Textorganisation: Alles Dargestellte, alle Gedanken und Gegenstände präsentieren sich in kontingenter Anordnung: am Leitfaden der willkürlichen Buchstabenreihe. Die ABC-Folge ist nichts als Konvention – woran das »Alphazet« selbst, und zwar schon im ersten Artikel, erinnert:

»Das A drängt, so weit wir erfahren konnten, allein durch den strikten Ordnungseifer Thomas von Aquins auf die erste Stelle im Alphabet, denn niemand vermag sich bis heute auf die Regeln seiner wirklichen Reihenfolge zu besinnen.« (Art. »A«, PM)

Reihungen am Leitfaden des Alphabets sind entsprechend antisystematisch und antihierarchisch. Mit dem Wechsel von einer auf Systematik und Ganzheit zielenden Enzyklopädistik zur alphabetisch aufgebauten Enzyklopädie ist ein tiefgreifender epistemischer Einschnitt verknüpft, der – in den Spuren Foucaults (1974) – die Wissenshistoriker nachhaltig beschäftigt hat, schon weil er beispielhaft zeigt, wie Epistemen und Schreibweisen einander wechselseitig prägen (Kilcher 2003). Beides zusammen – die Tendenz zur Textform des ›Artikels‹ sowie die antisystematische ABC-Struktur – bedingt die Affinität alphabetischer Schreibweisen zu einem Denkstil, der sich gegenüber auf Systematik angelegten Theorien distanziert und kritisch verhält, respektive: der ›Theorie‹ anders als im Sinn von Geschlossenheit und Systematik begreift (Seel 2009). Für die Gegenstände, die sich innerhalb eines alphabetisch strukturierten Textes verhandeln lassen, gilt Analoges wie für alphabetische oder alphanumerische Listen: Sie bieten einen Rahmen, der ›alles Mögliche‹ umspannen kann; sie gestatten, ja provozieren auch Experimente mit Heterologem. Die berühmte von Jorge Luis Borges beschriebene, von Foucault zitierte ›chinesische‹ Enzyklopädie existiert zwar nicht, hat aber neben Reflexionen über Ordnungsvorstellungen und ihre epistemischen Implikationen auch konkrete Schreibexperimente stimuliert (Jorge Luis Borges: Die analytische Sprache von John Wilkins. In: Das Eine und die Vielen. Essays zur Literatur. München 1966, S. 212. Vgl. dazu Michel Foucault: Die Ordnung der Dinge. Deutsch von Ulrich Köppen. Frankfurt/M. 1974, 18f.).
– Ein drittes wichtiges Motiv literarischer Experimente mit der alphabetisch-lexikographischen Form liegt in deren Affinität zum Kommentieren von Wörtern und zum Nachdenken über diese. Die Übergänge zwischen Sach- und Wortlexika sind fließend; kein Lexikon ohne Informationen über Wortbedeutungen, kein Wörterbuch ohne zumindest ein Minimum an Sachinformation. Die Lemmata eines Lexikons oder Wörterbuchs sind ›Schlüsselwörter‹: Am Anfang des jeweiligen Eintrags plaziert, erschließen sie – in variierender Gewichtung – Wort- und Sachwissen.
Viertens lässt sich mit der Entscheidung für das Alphabet als Strukturmodell von Texten und als Motor einer auf Wörter zentrierten Schreibweise eine Hommage an die Schriftzeichen verbinden – und damit an die Elemente der Schrift, als welche die Ausführungen des Textes sich dem Betrachter konkret präsentieren. Abecedarische Texte sensibilisieren auch und gerade für die Buchstaben, die da gereiht erscheinen und Texte, ja die erörterten Dinge selbst, im Gefolge haben. Walter Benjamin hat zeitgenössische ABC-Fibeln gewürdigt, die zugleich Buchstaben- und Dingwelten erschließen, und dabei die Suggestion eines Eigenlebens, einer Eigendynamik der Buchstaben herausgestellt – vgl. Walter Benjamin, »Aussicht ins Kinderbuch«. In: Gesammelte Schriften. Hrsg. von Rolf Tiedemann und Hermann Schweppenhäuser , Bd. IV/2 (Frankfurt/M. 1980), 609-613. Ferner: Gesammelte Schriften III, 267-272 (»Chichleuchlauchra«).
Fünftens schließlich steht eine Lexikographik, die bei aller Prägung durch Wissensdiskurse, kritische Haltungen und philosophisch-essayistische Traditionen doch auch und vor allem als ein literarisches Projekt wahrgenommen werden will, per se im Zeichen einer Ambiguität, derentwillen man sie als doppelbödig charakterisieren könnte: Sie steht zum einen durch ihren Anschluß an wissensvermittelnde, philosophisch-kritische Diskurse im Zeichen der Fremdreferenz, widmet sich der Vermittlung von Einsichten über Gegenstände sowie, gewissermaßen, von Einsichten über Einsichten; es gibt einen (mindestens) zweifachen Gegenstand: die Welt sowie das Sprechen und Denken über Welt, wie es der Lexikograph vorfindet. Diese Bezogenheit auf ›Welt‹ (auf gegenständliche wie auf diskursive) kann nicht nur theoretische, sondern auch, zumindest mittelbar und indirekt, praxisrelevante Folgen haben – so wie alle Kritik. Zum anderen aber verweigert sich literarische Lexikographik gerade der direkten Funktionalisierung. Sie ist, zumal in ihrer satirischen Spielform, zwar durch etwas geprägt, das man behelfsweise ihr ›Ethos‹ nennen könnte, aber dieses ist ein literarisches Ethos: ein Erproben von Schreibweisen ohne direkten Zweck, ein Spiel ohne unmittelbare Funktion. Kurz gesagt: Literarische Lexikographik will aus konträren, aber auch komplementären Blickwinkeln gelesen werden: sowohl als Exempel eines Schreibens, das Inhalte vermittelt und sich einmischt – wie auch als eines, das auf Autonomie beharrt, indem es seine Form in ihrer ganzen Kontingenz inszeniert.