A.
Ausgangsüberlegungen:
Literatur als Reflexion über Wissen
Das Alphazet
Wörterbuch (Dictionnaire) und Lexikon als
offene Textform

Als Formen literarischen und philosophischen Schreibens haben Wörterbuch (Dictionnaire) und Lexikon seit dem 18. Jahrhundert eine deutlich ausdifferenzierte Verwendung gefunden. Das Dictionnaire als eine mit Aufklärung und Kritik verbundene philosophische Textform wird in Anknüpfung an das Voltairesche Projekt bis in die Gegenwart geschätzt: es dient dabei der kritischen Reflexion über Gegenstände, Institutionen, Regeln und Diskurse – und wird gelegentlich zum Anlass »imaginärer Privatkriege gegen sich selbst« – Andreas Urs Sommer: »Die Kunst, selbst zu denken. Ein philosophischer Dictionnaire« (Frankfurt/M. 2002). Er unternehme, so Sommer, einen »Versuch, die Welt in Stichworte zu zerlegen. Typisch philosophisch, weil unnütz« (Artikel »Dictionnaire«). Das »dictionnairistisch-enzyklopädische Bewußtsein« charakterisiert sich selbst als ›ex-zentrisch‹, die Form des Dictionnaire lädt zum Dialog, ja zum Streit mit sich selbst ein gewürdigt. »Ein philosophischer Dictionnaire ist gewissermaßen ein Gefechtsjournal (...) imaginärer Privatkriege gegen sich selbst. Aber vielleicht doch nicht nur gegen sich selbst.« (Sommer 56f.) – Sommers Dictionnaire ist selbstbezüglich, wie etwa die Lemmata Begriffe, Dictionnaire, Unvorhersehbarkeit, Versatzstücke belegen. Als satirisches Textformat von der späten Aufklärung entdeckt, von Ambrose Bierce in »The Devil’s Dictionary« auf eine Weise genutzt, die das literarische Wörterbuch populär werden ließ, ist der kritisch-satirische ›Dictionnaire‹ ein inzwischen oft und facettenreich genutztes Genre, zahllose Teil- und Neuausgaben von Bierces teuflischem Buch inbegriffen. Das Spektrum der Varianten reicht von pointierter Kultur-, Zeit- und Diskurskritik und Wissenschaftsparodien in der Tradition der menippeischen Satire über eher humoristische Spielformen der Reflexion über die Dinge der Welt bis hin zur ostentativen Veralberung der Wörterbuchform im Zeichen des gewollten Nonsens. Im Medium des Wörterbuchs, so zeigt sich immer wieder, lässt sich über Sprache scherzen, mit ihr spielen, lässt sich Sprachliches reflektieren, kritisieren, aufspießen – ja, in gewissem Sinn einer Rasur unterziehen wie lästige (und dabei doch aus dem eigenen Gesicht wachsende) Bartstoppeln.

Spezifisch literarische Interessen motivieren Autoren seit dem 20. Jahrhundert dazu, mit dem Lexikon- oder Wörterbuchformat als einer ›offenen‹ Textform zu experimentieren, in deren Licht auch die verhandelten Gegenstände und Wörter selbst ihre latente Polysemie enthüllen. Die alphabetische Anordnung erscheint dabei zum einen als Gegenmodell einer sachgegründeten, hierarchisierenden und stabilen Ordnung, zum anderen aber auch als ein Dispositiv, das zum Entwurf von Ordnungsmustern einlädt (vgl. ROLAND BARTHES par roland barthes, Paris 1975; deutsch: Über mich selbst, München 1978, insbes.: Über mich selbst, 160, 161: das Alphabet sei die Ordnung der Unordnung, die nichtmotivierte Ordnung, es lösche alles aus, verdränge alle Herkunft, es zerschneide den linearen Text. Komplementär dazu besteht eine vom Alphabet ausgehende Versuchung, aus der fragmentierten Welt Zusammenhänge zu schaffen.). Gerade lexikographische Schreibweisen ermutigen einerseits zu einem analytischen oder dekonstruktiven Umgang mit Sprach- und Weltbeständen, laden andererseits zum Entwerfen und Erfinden fiktionaler Wirklichkeiten ein. Letzteres steht nicht nur im Mittelpunkt von Borges’ Erzählung Tlön, Uqbar, orbis tertius, es prägt auch die relativ junge Gattung des Lexikonromans, als deren Pionier Andreas Okopenko gelten darf (Andreas Okopenko: Lexikonroman 1970. – Derselbe: Meteoriten 1976).

Eine stilistisch heterogene, gleichwohl der Grundtendenz nach konvergierende Gruppe bilden solche Beispiele literarischer Lexikographik, die sich in impliziter kritischer Distanzierung von Mainstreamdiskursen, von kodifizierten Wertvorstellungen, von einer allgemeinen Favorisierung dessen, was im Zentrum der allgemeinen Aufmerksamkeit steht, den Reversseiten der kulturellen Wirklichkeit zuwenden: dem Peripheren, ja Abseitigen, dem Altmodischen und dem Abfall, dem Exzentrischen, Skurrilen, Sonderbaren, dem Altmodischen und Anachronistischen. Vgl. als Beispiele solcher Lexikographik des Vergänglichen: Liftboy, der. Ein Alphabet des Verschwindens (Sondernummer von »du«, Zeitschrift für Kultur 782, Dez. 07/Jan. 08. – M. Vänçi Stirnemann / Fritz Franz Vogel: ¿flickgut! Panne, Blätz, Prothese. Kulturgeschichtliches zur Instandsetzung. Marburg 2004. – Werner Bartens/Martin Halter/Rudolf Walther (Hgg.): Letztes Lexikon. Mit einem Essay zur Epoche der Enzyklopädien. Frankfurt/M 2002). – Das mit lexikographischen Texten verbundene Entdeckungs- und Erfindungspotenzial lexikographischer Texte tritt schließlich nicht nur in den Dienst der Konstruktion von (Lexikon-)Romanwelten und der Ausbreitung unbeachteter kultureller Teilwelten, es wird zudem vor allem von Wortfindern und Worterfindern genutzt. Schriftsteller wie Francis Ponge, Michel Leiris, Oskar Pastior, Yoko Tawada nutzen die Wörterbuchform für Entdeckungsreisen ins sprachliche Gelände oder als flexiblen Rahmen der Produktion von Neologismen. Für Ernst Jandl verbindet sich die Idee einer Autonomie der Literatur mit der Vorstellung eines »projektiven Wörterbuchs«, das zusammen mit einer »projektiven Grammatik« »alles an Sprache« enthält, »was es daran und darin noch nicht gibt« – Ernst Jandl: »Das Gedicht zwischen Sprachnorm und Autonomie«: »Vorangestellt: Über Grammatik und Wörterbücher« (= 1 Teil), GW 3/562-564, hier: 563.

Ein eigenes, ausführliches Kapitel in der Geschichte lexikographisch-literarischen Schreibens füllen die surrealistischen und durch den Surrealismus angeregten Beispiele: von den Wegbereitern und dem Surrealismus nahestehenden Lexikographen wie Carl Einstein und Georges Bataille (Kritisches Wörterbuch. Beiträge von Georges Bataille, Carl Einstein, Marcel Griaule, Michel Leiris u.a., hrsg. und übersetzt von Rainer Maria Kiesow und Henning Schmidgen, Berlin 2005) über die Kollektivprojekte surrealistischer Dictionnaires (vgl. den »Dictionnaire abrégé du surrealisme« (1938), Reprint: Paris (José Corti) 2005. Ferner: Le Da Costa Encyclopédique / Die Da Costa Encyclopédie. Hrsg. von Tom Lamberty u. Ronald Voullié, aus dem Französischen und mit einem Nachwort von Ronald Vouillié, Berlin 2008) mit ihren vielfältigen Zitaten aus der Welt gegenständlicher und sprachlicher Fundstücke bis zu literarischen Lexikographen, die dieses surrealistische Zitieren und Arrangieren ihrerseits zitieren und so neue literarische Schreibweisen entwickeln (vgl. Ror Wolf: »Raoul Tranchirers vielseitiger großer Ratschläger für alle Fälle der Welt« (Stuttgart 1983) und seine Nachfolgeprojekte in der »Enzyklopädie für unerschrockene Leser«).

Ein Hauptakteur surrealistisch geprägter literarischer Lexikographik ist Alberto Savinio, dessen konsekutiv realisiertes Projekt Nuova Enciclopedia in der deutschen Übersetzung den zwar eigenwilligen, aber doch auch treffenden Titel Mein privates Lexikon trägt (Alberto Savinio: Nuova Enciclopedia (Mailand 1977). Deutsche Ausgaben: (a) Neue Enzyklopädie, TB-Ausgabe Frankfurt/M. 1983. (Aus dem Italienischen von Christine Wolter) – (b) Mein privates Lexikon. Zusammengestellt und mit einem Nachwort versehen von Richard Schroetter. Deutsch von Christine Wolter und Karin Fleischanderl, Frankfurt/M. 2005). Savinio hat erklärt, er habe sich eine eigene Enzyklopädie geschrieben, weil ihm die anderen nicht genügten – vgl. das Motto Savinios, einleitend in die deutsche Ausgabe von 2005 (unpag.): »Ich bin so unzufrieden mit den Enzyklopädien, daß ich mir diese hier für meinen persönlichen Gebrauch geschrieben habe. Arthur Schopenhauer war so unzufrieden mit den Philosophiegeschichten, daß er sich eine eigene für seinen persönlichen Gebrauch zusammenschrieb.« Schon deshalb wird hier die ›Alternativenzyklopädie‹ zum indirekten Selbstporträt; hinzu kommt die inhaltlich und quantitativ starke Gewichtung von Autobiographischem, persönlichen Bekanntschaften, ästhetischen Neigungen und eigenen Projekten. In Savinios Enzyklopädie soll, um es im Bild der Nassrasur zu sagen, unter anderem ein Gesicht freigelegt werden.