B.
Bücher und Alphabete, Bücher als Alphabete
Über lexikographisches Schreiben als Genre
Erkundungszüge an die Grenze des Vorstellbaren

Doch nicht alle durch ihre Beschreibung ins Leben gerufenen Geschöpfe gestatten es dem Leser, sich von ihnen ein Bild zu machen. Ein rätselhaftes Wesen ist das »verborgene Tier« aus »Raoul Tranchirers Mitteilungen an Ratlose«, Frankf./M. 1997.

»Tiere, verborgene. Ein Tier taucht aus der Dunkelheit auf. Von seinem Kopf sieht man wenig, weil selbst der größte Teil der kurzbehaarten Schnauze von den auffallend langen Haaren des Scheitels verdeckt wird. Der Haarpelz verhüllt auch den Körper. Man sieht eigentlich gar nichts von diesem Tier, nur große wehende Büsche. Wenn man den Leib geschoren hat, was zum Glück selten vorkommt, zeigt sich ein winziger bleicher dünner fleischloser Körper. Die nackten Füße sind ganz abscheulich. Dieses Tier lebt, wie Collunder behauptet, in den sandigen Ebenen, gräbt lange Gänge unter den Boden und kommt nur durch Zufall an die Erdoberfläche. Es soll mit der größten Geschwindigkeit den Boden durchwühlen, sich auf der Oberfläche dagegen langsam und ungeschickt bewegen. Lemm sagt, das Tier braucht etwa zwei Tage, um einen Baum zu besteigen. Beim Hinaufsteigen verzehre es den Baum, es entblöße ihn gänzlich bis zum Wipfel. Dann muß es die beschwerliche Reise bis zum nächsten Baum unternehmen, also herabsteigen, wozu wieder zwei Tage nötig sind. Einige Reisende, darunter auch Wobser, behaupten aber, daß es sich, um weitere Bewegungen zu vermeiden, zusammenkugele (103) und einfach vom Baum fallen lasse. Sein Gang sei ein höchst eigenartiges Kriechen, sagt Lemm. Und wirklich, es sieht aus, als ob das Tier auf der Erde dahin kröche, ohne ein Glied zu bewegen, denn die Beine werden von den langen Haaren des Leibes vollkommen bedeckt und ihre Bewegungen sind kaum erkennbar. So kann auch der Eindruck entstehen, als bewege sich dieses Tier eigentlich überhaupt nicht, oder mehr noch, als sei dieses Tier gar kein Tier, sondern nur etwas bewegungslos Tierähnliches, etwa eine Pelzmütze, die von einem Spaziergänger verloren wurde. In den Sommermonaten gehen verborgene Tiere selten allein, vielmehr stets in Gesellschaft hintereinander, und deshalb sieht es so aus, als ob diese ganze Kette von Tieren ein einziges Wesen sei, eine merkwürdig lange behaarte Schlange. Zuweilen bleibt der vordere Teil stehen, hebt den Kopf, schnauft ein wenig und kriecht schlangenhaft weiter, zwischen den Halmen hindurch und mit großer geräuschvoller Bedachtsamkeit. – Unterhaltung oder Belehrung bieten die verborgenen Tiere wenig, es lohnt sich kaum sie zu beobachten, sie verkriechen sich raschelnd oder drücken sich zitternd in Ecken zusammen; eine auch nur bescheidene geistige Anstrengung vermögen sie nicht zu bieten, deshalb schlägt Klomm sie tot, wo er sie findet, zumal er von ihnen weder Anerkennung noch Anhänglichkeit zu erwarten hat. Die verborgenen Tiere sind unnütz und überflüssig, sagt Klomm. Ich will das zwar nicht bestreiten, behaupte aber, daß namentlich der Schwanz eine ganz ausgezeichnete Suppe liefert.« (»Raoul Tranchirers Mitteilungen an Ratlose«, 102f.)