B.
Bücher und Alphabete, Bücher als Alphabete
Über lexikographisches Schreiben als Genre
Reflexionen über die alphabetische Ordnung

Ein besonders wichtiges Ordnungsprinzip des Wissens stellt die alphabetische Ordnung dar: erstens, insofern sie sich anderen überlagert (also etwa der Darstellung bestimmter Typen von Gegenständen; alles, was einen Namen hat, läßt sich alphabetisch ordnen), und zweitens, insofern die Abhängigkeit des Wissens von kontingenten Darbietungsformen im Fall alphabetisch geordneter Informationen besonders evident erscheint. Die alphabetische Anordnung von Gegenständen als solche sagt über diese, ihre Zusammenhänge und ihre Vergleichbarkeiten nichts aus. Denn eine alphabetische Ordnung ist ja nur eine Ordnung am Leitfaden der Namen – und Namen sind beliebig, historisch variabel und kulturell different. Auch die alphabetische Folge der Lettern selbst ist kontingent. Auf seiner inhaltlichen Indifferenz beruht gerade die universale Einsetzbarkeit des alphabetischen Prinzips für alle sprachgebundenen Formen der Wissensvermittlung. Das einzige, was alphabetisch strukturierte Darbietungen von Wissen an und durch sich selbst suggerieren, ist, daß die alphabetisch geordneten Gegenstände einander in irgendeiner Form kompatibel sind – und sei es auch nur, daß es sich um Wörter handelt, die einer und derselben Sprache angehören. (Lexika, Hand- und Wörterbücher imaginärer Gegenstände provozieren, allgemein gesagt, zur Reflexion über die Darstellungsformen von Wissen als über die Ordnungsmuster von Welt. Gerade dort, wo sie alphabetisch organisiert sind, verbindet sich damit implizit ein Hinweis auf die Sprachgebundenheit jener Darstellungsformen und Ordnungsmuster.)
Literarische Lexikographen operieren mit der alphabetischen Ordnung als einem Prinzip, das allein die (kontingenten) Namen der verzeichneten Gegenstände zum Kriterium ihrer Anordnung macht. Und sie setzen manchmal auf die subversiven Effekte von in die beschriebene Tier-, Pflanzen- oder Begriffswelt eingeschleusten Phantasieprodukten. Das Alphabet gestattet es, das Nasobem zwischen dem Nachtpfauenauge und dem Nilpferd aufmarschieren zu lassen.

Das ABC ist mit widersprüchlichen Konnotationen verknüpft und insofern auf spannungsvolle Weise semantisiert.

  • Zum einen steht es in seiner Eigenschaft als Strukturierungsprinzip von Lexika, Enzyklopädien, Wörterbüchern etc. für die Fragmentierung von Wissen: Wissen wird im alphabetisch aufgebauten Kompendium (anders als in Spielformen älterer Enzyklopädietypen) bruchstückweise dargeboten – und verweist damit indirekt auf die Bruchstückhaftigkeit allen Wissens, ja auf die Partikularität, Zersplitterung, Fragmentierung der Welt selbst, die Gegenstand des Wissens ist.
  • Zum anderen steht das ABC für das Ganze, für eine Totalität von Elementen, aus denen sich alles Mögliche zusammensetzen läßt. In Werbeformeln und Buchtiteln wie »... von A bis Z« wird daran noch erinnert; sie drücken den Anspruch aus, alles Mögliche oder doch alles Relevante über einen Gegenstand, ein Thema etc. zu bieten.
  • Und: Zum einen ist mit einer alphabetischen Anordnung von Wissensbeständen, Mitteilungen, Erinnerungen, Informationen aller Art Diskontinuität konnotiert: Die einzelnen Bausteine folgen ja nicht einer sachgegründeten Ordnung, sondern sie sind an Lemmata geknüpft, die unabhängig von inhaltlichen Kriterien alphabetisch sortiert wurden. Zwischen einem Artikel eines Lexikons und dem nächsten besteht in der Regel ein inhaltlicher Bruch (und wenn das einmal nicht so ist, handelt es sich entweder um einen Zufall, oder es liegt an der Namensähnlichkeit der Lemmata.)
  • Zum anderen ist mit der alphabetischen Ordnung aber auch Folgerichtigkeit verknüpft, denn das Alphabet selbst bildet ja eine festgelegte Sequenz, und was immer am Leitfaden des ABCs dargestellt oder erörtert wird, bewegt sich unausweichlich von A bis Z. (Insofern läßt sich die ABC-Form verwenden, um Determiniertheit bzw. Unausweichlichkeit von Verläufen und Entwicklungen zu suggerieren.)

Die Form des ABCs, die alphabetische Ordnung, besitzt vor dem Hintergrund dieser unterschiedlichen Semantisierungsoptionen Affinitäten zu verschiedenen Schreibweisen.

  • Zum einen wird sie eingesetzt, um auf möglichst sachliche und ›neutrale‹ Weise Wissensbestände darzustellen; die Entscheidung für die alphabetische Ordnung impliziert den Verzicht auf eine mit metaphysischen Ordnungsmodellen und Sinnsuggestionen verbundenen Systematik. Alphabetische Schreibweisen bieten Informationen auf denkbar interpretationsfähige und nutzungsoffene Weise dar. Darum eignen sie sich gut für Sachbücher, Bestandsverzeichnisse, katalogartige Darstellungen etc.
  • Zum anderen haben sie eine Affinität zum Komischen und zu humoristischen Schreibweisen. Denn im Zeichen des ABCs läßt sich Heterogenes, Unzusammengehöriges, Diskrepantes miteinander verbinden, und bedingt durch die alphabetische Reihe folgen Dinge aufeinander, die nichts miteinander zu tun haben. Die alphabetische Ordnung ist eine Steigerungsform des Witzes, der auf die Verknüpfung von Diskrepantem setzt; auf Kontrastierungen, auf schräge Kombinationen.
  • Aus dieser Perspektive hat die ABC-Form eine Affinität zu satirischen Schreibweisen. Denn sie erzeugt Kontraste, die kritisch gemeint sein können; sie bringt – scheinbar harmlos – diskrepante Dinge zusammen, deren Kontrastierung entlarvend wirkt.
  • Eine Affinität besteht auch zur Nonsens-Dichtung. Denn die allein vom ABC bedingte Kombination von Dingen, Gegenständen, Informationen etc. enttäuscht Erwartungen und Ansprüche auf Sinn und Zusammenhang. Alphabetische Sequenzen sind das Gegenteil sinnvoller Sequenzen; die alphabetische Ordnung ist eine Scheinordnung – ein Surrogat für nichtexistente (oder unbekannte) sachliche Ordnungen. Allein die Aufreihung von Dingen, Sätzen, Wörtern, Vorstellungen nach dem ABC kann wegen ihrer Pseudo-Vollständigkeit und Pseudo-Konsequenz komisch wirken, wie denn auch die Häufung von Wörtern von A bis Z (etwa von Adjektiven, Aussagen etc.) als solche wirken kann.
  • Verstärkt werden die komischen oder absurden Effekte von Texten mit ABC-Struktur noch dadurch, daß ABC-Texte an Schulbücher, an Didaktisches, an Belehrungen und ›ernsthafte‹ Wissensvermittlung erinnern, die entsprechenden Erwartungen aber gerade nicht einlösen, sondern Didaktisches parodieren.