E.
Enzyklopädisch-lexikographische Schreibprojekte
Brockhaus minimiert

Kurt Marti: »Abratzki oder Die kleine Brockhütte. Nachträge zur weiteren Förderung unseres Wissens. Lexikon in einem Band«


 1 | 2 | 3 | 4 | 5 |

Genealogien, wie sie hier – nach alttestamentarischem Muster – geboten werden, dienen normalerweise der Herleitung von späterem aus Früherem und insofern mittelbar der Begründung. Hier signalisiert die parodistische Verwendung des genealogischen Modells indirekt, daß es in der Abratzky-Welt nichts logisch zu begründen gibt, daß sie sozusagen im Bodenlosen schwebt. Auf den Titel des Buchs – aber auch auf seine pasticheartige Struktur – zu beziehen ist der Artikel:

»Brockenhaus, das. Sammelstätte nicht mehr verwendeter oder schadhafter Gegenstände. Das erste B. errichtete Friedrich von Bodelschwingh (1831-1910) 1891 in Bethel, um Arbeitslosen oder erwerbsbeschränlten Personen Beschäftigung und Hilfsbedürftigen billige Gebrauchsgegenstände zu vermitteln. Den Namen B. leitete Bodelschwingh aus Joh. 6, 12 ab, wo Jesus den Jüngern nach der Speisung der 5000 befiehlt: ›Sammelt die übriggebliebenen Brocken, damit nichts verlorengehe!‹ Kleinere B.er heißen Brocken‑ oder Brockhütten, in Dörfern oft auch Brockenstuben.« (S. 21)

Im Licht dieses Artikels erscheint das Buch als Brockensammlung aus einer Wissensgesellschaft. Als besonders wissenswert erscheinen schon bei rein quantitativer Betrachtung solche Informationen, die sich auf künstlerische Praktiken, Kunstrichtungen und Künstler beziehen. Das zweite Lemma ist »Absurde Literatur«; der Artikel besteht aber nur aus dem Verweis: »→ Urmuz«. (S. 9). Ein Lemma »Urmuz« findet sich tatsächlich; der Artikel gilt wie diverse andere einem fiktiven Dichter:

»Urmuz, Demetru Demetrescu-Buzau. Rumänischer Schriftsteller, 1883-1923 (Selbstmord). War Richter in kleinen rumänischen Provinzstädten. Daneben schrieb und komponierte er. Von seinen schriftstellerischen Arbeiten sind jedoch nur wenige erhalten geblieben, die 1930 in einer Auflage von 250 Exemplaren publiziert wurden. Nach dem 2. Weltkrieg wurde U. als ein Vorläufer der absurden Literatur entdeckt und als solcher u.a. auch von Eugène Ionesco (geb. 1912) gewürdigt. (Eugène Ionesco: Precourseurs Roumains, in Lettres Nouvelles, I/2 1965; Petru Zucalescu: Les sources roumaines de la littérature absurde, in: Folia, IV/1967; Stefan Baciu u.a.: Urmuz, in: Mele 15/1970).« (S. 99)

Die »Brockhütte« erweist sich als ein Domizil für die Kunst – für historisch Belegtes wie für Imaginäres. Noch eine ganze Reihe weiterer (fiktiver) Künstler und Dichter bevölkert das Lexikon; nur einige Beispiele:

»Album, Lore. Geb. 1923 in Berlin, seit 1933 in den USA lebend, wo sie sich einen Namen als Sozialreporterin und Harfenistin gemacht hat. Ihr größter Bucherfolg war ›Harlem Report‹. Als Harfenistin interpretiert sie Musik der Avantgarde und schreckte auch nicht davor zurück, mit Beat- und Rockgruppen zu spielen.« (S. 11; der Artikel endet mit bibliographischen bzw. diskographischen Hinweisen)

»Babenhausen, Sylvester von. Geb. 1900 in Berlin als Kind vermögender Eltern. Seiner Herkunft und dichterischen Begabung zum Trotz wurde er Liftpage im Hotel Esplanade in Berlin, sich so seinen Knabentraum erfüllend. Die Zeitschrift ›Die Aktion‹ veröffentlichte am 26. Juli 1913 Gedichte des erst Dreizehnjährigen, die beträchtliches Aufsehen erregten. In späteren Nummern der ›Aktion‹ folgten ein Prosastück (›Sonntag in den Zelten’), ein Dialog (›Über die Ehe’), die ›Sonette aus dem Lift‹ und die ›Elegie auf den Tod eines treuen Dieners‹. Danach verstummte von B. und über sein weiteres Schicksal ist nichts bekannt.« (S. 14)

»Barrett, George. Geb. 1932 in Nashville/USA, lebt in New York. Begann als kinetischer Plastiker, arbeitet jetzt als Feuerwerkskünstler. Im Manifest ›Fire and Fire and Fire and Time‹ (1965) proklamiert B. eine nicht konservierbare ›Augenblickskunst‹, deren ideales Medium das Feuerwerk sein soll. Seither versucht B., durch neuartige Feuerkreationen das Feuerwerk als eine der schönen Künste und zugleich als neue Kunst für das Volk und seine Feste zu lancieren. (Edgar W. Avarajian: Fire-Art, 1967)« (S. 15)