E.
Enzyklopädisch-lexikographische Schreibprojekte
Brockhaus minimiert

Kurt Marti: »Abratzki oder Die kleine Brockhütte. Nachträge zur weiteren Förderung unseres Wissens. Lexikon in einem Band«


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Einen Grundeinfall machen diese und andere Artikel aus der »Brockhütte« immer wieder evident: Man braucht nur über Sprache zu schreiben – und schon kommen die (teils skurrilen) Einfälle; die Rückwendung der Sprache, die Reflexion der Kunst auf sich selbst setzt als solche bereits kreative Potenziale frei. Auf die literarisch-lexikographische Arbeit beziehbar sind auch Artikel wie:

»Fabulistik, die [Lat. ›Erdichtungswissenschaft‹] Spezialdisziplin der Literaturwissenschaft, durch Johann Jacob Kleemühl begründet (›Principia der fabulistischen Kunst‹, 1867). Beschäftigt sich mit Ursprung, Eigenart und Methode des Erdichtens (Fabulierens) in der Literatur. Nach Kleemühl stand die F. einige Jahrzehnte in großem Ansehen, das sie erst wieder einbüßte, nachdem Karl Wabl seinen satirischen Traktat ›Die Germanistik als Zweig der Fabulistik betrachtet‹ (1911) veröffentlicht hatte.« (S. 35)

»Kurzkunst, die. Literarische und dramatische Werke(,) deren gemeinsames Merkmal ihre Kürze ist, z.B. die ›Mikrodramen‹ (1964) des Österreichers Wolfgang Bauer (geb. 1941). Der Begriff K. stammt vom deutschen Autor Kurt Zahl (geb. 1930), der unter dem Titel ›Kurts Kurzkunst‹ (1962) prosaische und poetische K.-Texte publizierte.« (S. 56)

Und natürlich ein schöner gattungsbegrifflicher Neologismus:

»Lexi-Fiction, die. Aus ›Lexikon‹ und engl. ›fiction‹ [= Erfindung, Erzählung, Fiktion] gebildetes Wort, das der elsässische Schullehrer, Volkskundler und Verfasser phantastischer Schriften Theodor Obermann (1909-1962) zur Bezeichnung eines von ihm konzipierten Lexikons mit erfundenen Stichwörtern, Definitionen, Beschreibungen und Illustrationen ohne ersichtliche Realitätsbeziehung schuf. Obermann nannte sein fingiertes Lexikon eine Bestandesaufnahme (sic) ›neuer, möglicher und möglicherweise auch nützlicher Dinge‹. Die Methode der L. erlaubt die Herstellung beliebig vieler und beliebig verschiedenartiger Lexika, die aber nie ›fertig‹ oder ›vollständig‹ sein können. Obermann wollte deshalb sein Lexikon nie ›vollenden‹ er konzipierte es zum vornherein als einen Anfang, als Fragment, als immerwährendes ›work in progress‹ das jeden Leser zur fortführenden Mitarbeit einlädt. (Stichworte aus Theodor Obermanns immerwährendem Lexikon. In: Blätter für elsässische Volkskunde und Kunst, II/1965)« (S. 59)

Ein Schlüsselartikel zu individualistischen Grundhaltung des Lexikographen bezieht sich auf ein literarisches Werk, das eine Anti-Utopie schildert, auf die die »Brockhütte« als ein mit Utopien sympathisierendes Unternehmen kontrastiv zu beziehen ist:

»Orwell, das. Einheit zur exakten Messung des sozialen Drucks, dem das Individuum ausgesetzt ist. Die Bezeichnung wurde vom schwedischen Sozialphysiker Bengt Marström (geb. 1919) vorgeschlagen. George Orwell (1903-1950) schrieb kurz vor seinem Tode den utopischen Roman ›1984‹. In der von Marström eingeführten Meß-Skala bezeichnet O(null)Orwell das Fehlen jeden Sozialdrucks, was praktisch nie der Fall ist. Der gegenwärtige Stand der soziophysikalischen Meßtechnik erlaubt es, den sozialen Druck bis auf ein Zehntel Orwell genau zu messen. Die für das Individuum tödliche Druckdosis ist umstritten, kann vermutlich auch nicht generell bestimmt werden, da sie je nach klimatischen, (70) rassebedingten, gesellschaftlichen und anderen Faktoren variiert. (Bengt Marström: Sozialphysikalische Meßmethoden, 1968; Hans U. Seboll: Kritik der Marström’-schen Methode, in: Sozialphysikalische Monatshefte, 4/1970