E.
Enzyklopädisch-lexikographische Schreibprojekte
Brockhaus minimiert

Kurt Marti: »Abratzki oder Die kleine Brockhütte. Nachträge zur weiteren Förderung unseres Wissens. Lexikon in einem Band«


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Beide Artikel, »Aktiorama« und »ANS«, spielen mit dem Motiv der Umkehrung: Die Rollen von Publikum und Schauspielern werden getauscht, vertauscht wird die Reihenfolge von Notation und Komposition) – Um eine Umkehrung geht es auch im Artikel: »Dienerlob, das. Poetische Gattung. Verglichen mit dem poetischen Königs- und Fürstenlob ist das D. in den Literaturen eher selten.« (S. 28). Eine interessante Gruppe bilden auch die sprachbezogenen Artikel:

»Archiblabla, der. Aus griech. ›archi‹ [=Erz-] und franz. ›blabla‹ [=Geschwätz]. Hauptfigur des gleichnamigen, angeblich spätlateinischen Epos, das Reinhard Seeboll jedoch als geschickte Fälschung entlarvte. Der A. ist in diesem Epos ein unermüdlicher Schwätzer, ein lebenslustiger Nichtsnutz und Frauenheld. (Reinhold Seeboll: Archiblabla – eine gekonnte Fälschung, 1929).« (S. 12)

»Scheinwörter. Wörter, denen keine wirklichen oder möglichen Begriffe zu Grunde liegen. Die Vokabel S. wurde geprägt und definiert in einem anonymen Aufsatz der Critische(n) Versuche zur Aufnahme der deutschen Sprache (Greifswald 1742).« (S. 81)

Mit solch sprach- und redebezogenen Artikeln geht es evidenterweise um Grundlagen und Gestaltungsmaterialien der Schreib-Kunst. Einzelne Artikel gelten – in konsequenter Vertiefung dieses Interesses am Künstlerisch-Elementaren – bestimmten Buchstaben: Das B ist, wie man erfährt, der »Lieblingsbuchstabe« von Brigitte Bardot (S. 14). Und das C ist der »Buchstabe, der im ABD der Eskimos fehlt« (S. 23). Aber Literatur ›besteht‹ nicht nur aus etwas, sie hat auch Wirkungen: Von der Umsetzung einer literarischen Vision in die Realität handelt der Artikel:

»Chronolulu. Aus griech. ›chronos‹ [=Zeit], Lulu [Mädchenname] und Honolulu [Hauptstadt der Insel Hawaii].
1) In seinem in viele Sprachen übersetzten Erfolgsroman ›Feuer, Meer und silberne Delphine‹ erzählt der Unterhaltungsautor Edwin Holm von der ebenso paradiesischen wie verworfenen Hazienda eines brasilianischen Großkapitalisten, wo auserlesen schöne Mädchen um die Erholung von Geschäftsfreundeen aus aller welt und von Politikern besorgt sind. Diese Mädchen nennt ihr gebildeter Arbeitgeber ›Chronolulus‹ (d.h. ›Lulus auf Zeit‹) und benutzt sie dazu, um Geschäftspartner und Politiker zugleich auszuhorchen und sich zu verpflichten.« (S. 24)

Von diesem Roman-Chronololu hat eine unter (2) dann genannte Ferieneinrichtung ihren Namen entlehnt. Der Artikel bietet u.a. ein Beispiel dafür, wie die Prägung eines neuen Wortes neue Perspektiven auf Tatsachen eröffnet und dabei kritische Akzente setzt – sprachliche Kreativität also einen praktischen Sinn haben kann. Direktere Zeitkritik artikuliert sich in der »Brockhütte«, wenn auch in ironischer und skurriler Form in Artikeln, die man deskriptiv nennen könnte, etwa in »Zweidrittelswelt« = letzter Artikel):

»Zweidrittelswelt, die. Begriff, den erstmals jugendliche Teilnehmer am Deutschen Evangelischen Kirchentag 1969 in Stuttgart lancierten. Er bezeichnet die zwei Drittel der Menschheit, die unterernährt und unterentwickelt existieren müssen, und soll den Begriff Dritte Welt‹ verbessern ersetzen, indem er verdeutleicht, daß die ›Dritte Welt‹ kein beiläufiges Anhängsel der ›Ersten‹ (kapitalistischen) und ›Zweiten‹ (kommunistischen) Welt ist, sondern die immer noch wachsende Mehrheit aller Menschen.« (S. 113)