Q.
Quidditch, Flubberwürmer, Hobbits und Orks:
Über Enzyklopädien und Fantasyliteratur
Fragmentierung und Vernetzung durch Verweise.
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Diderot, der maßgebliche Designer der »Encyclopédie Française«, konzipiert eine »enzyklopädische Theorie der Verweise«: Zunächst rekurriert er „auf eine ästhetische Theorie der Ganzheit und des Werks“ (253), stellt diese Konzeption der enzyklopädischen Ordnung dann jedoch im Frage (vor allem im 1755 im 5. Enzyklopädie-Band erschienenen Artikel »Encyclopédie«).

»Dem Verständnis des Zusammenhangs als Reduktion der Vielheit stellt er einen Begriff des Zusammenhangs als Steigerung von Relationsmöglichkeiten entgegen. […] diese Entgrenzung der enzyklopädischen Systematik erweist sich nicht nur als ein enzyklopädisches, sondern auch als ein dezidiert ästhetisches Modell. Es setzt dem monoperspektivischen funktionalen werkganzen das polyperspektivische Verweisungsgefüge eines fragmentierten Textes entgegen. Diese Alternative zwischen Vereinfachung und Verkomplizierung des fragmentierten Wissens entspricht […] den beiden Interpretationen der Totalität auf der Ebene der (254) ›Litteratur‹.“ (253f.)

Leibnizianisch geprägt ist die Idee, das Weltall lasse sich aus unendlich vielen Perspektiven betrachten. Dies korrespondiert der Gliederung des enzyklopädischen Gesamttextes in Artikel. Durch Querverweise werden diese Artikel in Beziehung zueinander gesetzt und ergeben so ein komplexes Ganzes (255). Diderot widmet dem System der Verweise (renvois) viel mehr Aufmerksamkeit als d’Alembert (257); sie ist für ihn ein besonders wichtiger Teil der enzyklopädischen Ordnung.

»Man kann Hinweise, wie immer sie auch beschaffen sein mögen, nicht oft genug geben. Überflüssige Hinweise wären immerhin besser als unterlassene. Eine der unmittelbarsten Wirkungen und einer der bedeutendsten Vorteile bei der Vervielfachung der Hinweise bestehen vor allem in der Vervollkommnung der Nomenklatur.« (Diderot: Enzyklopädie, 195, zit. nach Kilcher 2003, 257)
»Die sachlichen Hinweise (renvois des choses) erläutern den Gegenstand, zeigen seine nahen Zusammenhänge mit den unmittelbar angrenzenden Gegenständen und seine fernen Zusammenhänge mit anderen, die man sonst für völlig abgesondert halten könnte; rufen die gemeinsamen Begriffe und die ähnlichen Prinzipien in Erinnerung, bekräftigen die Folgen, verbinden den Zweig mit dem Stamm und geben dem Ganzen jene Einheit, die für die Feststellung der Wahrheit und für die Überzeugung so günstig ist. Nötigenfalls rufen diese Hinweise aber auch eine völlig entgegengesetzte Wirkung hervor: sie fechten Begriffe an, widerlegen Prinzipien, greifen heimlich lächerliche Anschauungen an, deren offene Anfechtung zu riskant wäre, erschüttern sie und stoßen sie um. Wenn der Autor unvoreingenommen ist, haben solche Hinweise immer die doppelte Aufgabe, zu bestätigen und zu widerlegen, zu beunruhigen und zu beschwichtigen.« (Diderot: Enzyklopädie, 195, zit. nach Kilcher 259)

Wie Kilcher betont, haben bei Diderot Verweise »nicht nur eine sachliche, sondern auch eine rhetorische und ästhetische Qualität« Sie machen »die Kontiguitäten und Dissonanzen, die Ähnlichkeiten und Differenzen innerhalb der fragmentierten Enzyklopädie sichtbar«; mit Alphabet und Steuerungszeichen werden »zwei an sich asemantische Schreibsysteme über den linearen Text gelegt« (260). Für Diderot ist Beziehungsvielfalt gleich Schönheit (262). Schon im Umfeld der Enzyklopädisten und ihrer Leser bildet sich das Modell des assoziativen, genießenden, flanierenden Lesens heraus (269-271).