Q.
Quidditch, Flubberwürmer, Hobbits und Orks:
Über Enzyklopädien und Fantasyliteratur
Rowling

»Phantastische Tierwesen & wo sie zu finden sind«, ein Lexikon im Taschenformat, laut Titelei verfasst von einem gewissen Newt Scamander (Newt Scamander [=Janet K. Rowling]: Phantastische Tierwesen & wo sie zu finden sind. Dt. v. Klaus Fritz. Hamburg 2001. Original: Fantastic Beasts and Where to Find Them. London 2001). Ein (tromple-l’oeil-)Aufkleber mitten auf dem roten, durch (aufgedruckte) Risse auf den ersten Blick leicht beschädigt wirkenden Einband: »Dieses Buch gehört: Harry Potter«; auf dem Vorsatzblatt noch einmal ein Exlibris-Etikett, das Harry Potter als Besitzer nennt, ferner mehrere (faksimilierte) handschriftliche Zusätze: »und auch Ron Weasley weil meins aus dem Leim gegangen ist«, »und warum kaufst du dir kein neues?« »Schreib doch in dein eigenes Buch, Hermine« – Spuren einer Geschichte sukzessiver Schüler-Lektüren, so scheint es. Das Bändchen über »Phantastische Tierwesen« präsentiert sich als Sonderausgabe mit einem Vorwort von Albus Dumbledore, aus dem Englischen ins Deutsche übertragen von Klaus Fritz, gemeinsam produziert von zwei Verlagen, dem Hamburger Carlsen Verlag und von »Obscurus Books, Winkelgasse 18A, London«. Die Seiten im Buchinnern enthalten ebenfalls diverse (faksimilierte) Schülerkritzeleien, die das Gelesene (so scheint es) subjektiv und spontan kommentieren. Der Inhalt des Bändchens gleicht dem Lexikon imaginärer Wesen von Jorge Luis Borges, dessen alphabetisch angeordnete Artikel Fabeltiere verschiedenster Provenienz schildern wie ein zoologisches Kompendium realer Tiergattungen. Die Artikel zu den phantastischen Wesen sind bei ›Scamander‹ wie in anderen, konventionellen Lehrbüchern um abhandelnde Teile ergänzt. Durch seine äußere Gestalt und andere paratextuelle Komponenten suggeriert das Büchlein also, es stamme selbst aus dieser Welt, sei ein Einzelexemplar mit charakteristischen Gebrauchsspuren, ja es habe Harry Potter selbst gehört und sei von mehreren Schülern der Zauberschule Hogwards benutzt und vollgekritzelt worden. Gegenstand dieses Schulbuchs ist eine naturkundliche Übersicht über die verschiedenen Arten fabelhafter Wesen. Als Beispiel für die Integration einer sachkundlich-szientifischen Darstellungsform in die imaginäre Harry-Potter-Welt sei der Artikel über den Flubberwurm, der sich formal von konventionellen Lexikonartikeln nicht unterscheidet.

»Flubberwurm. ZM-Klassifizierung: X. Der Flubberwurm lebt in feuchten Gräben. Dieser dicke, braune Wurm, der bis zu einem Viertelmeter lang wird, bewegt sich sehr wenig. Das eine Ende ist vom anderen nicht zu unterscheiden, aus beiden dringt der Schleim, dem der Flubberwurm seinen Namen verdankt und der gelegentlich zur Verdickung von Zaubertränken verwendet wird. Der Flubberwurm ernährt sich bevorzugt von Salat, frisst jedoch fast jedes Grünzeug.« (22)

Ein zweites, ähnliches Fundstück: »Quidditch im Wandel der Zeiten«, verfasst von »Kennilworthy Whisp« (Kenilworthy Whisp [= Janet K. Rowling]: Quidditch im Wandel der Zeiten. Dt. v. Klaus Fritz. Hamburg 2001. Orig.: Quidditch Through the Ages. London 2001). Das in der Buchhandlung ausliegende Exemplar ist einem Siegel auf dem Umschlag zufolge »Property of Hogwarts Library«. Wiederum wurde ein Original von Klaus Fritz aus dem Englischen übersetzt, das Buch diesmal vom Carlsen Verlag in Kooperation mit »Whizz Hard Books« in der »Winkelgasse 129a« (London) produziert, und es enthält Beschreibung und Geschichte des Spiels Quidditch, dessen Spieler, auf magischem Besen reitend, einen geflügelten Ball durch einen dreidimensionalen Spielraum zu treiben pflegen. Auf dem Vorsatzblatt des kleinen Buches findet sich eine Liste der Ausleiher; der bisher letzte von ihnen ist »H. Potter«. Keine Kritzeleien im Exemplar diesmal, dafür versichert ›Albus Dumbledore‹ im eigenhändig unterzeichneten Vorwort, er habe »die üblichen Bibliotheksflüche von diesem Buch entfernt« (S. XI). Die Liste vergleichbarer Fundstücke könnte verlängert werden: Ein reiches Sortiment von Titeln der ›Sekundär‹-Literatur umrankt mittlerweile die Geschichte Harry Potters, deren gemeinsamer Effekt darin besteht, die Welt des Romans mit ihren Fabelwesen wie empirisch verifizierbare Tatsachen aufzubereiten.

Nicht nur in Buchform findet Harry Potters Geschichte ihre vielfachen Fortsetzungen. In die Alltagswelt des Lesers schmuggeln sich als Fundstücke aus Hogwarts ferner verschiedenste Objekte ein, die eigentlich in die dort romaninterne Wirklichkeit gehören: Kostüme, magische Talismane, Eulen, Besen und anderes mehr. Die spielerische Entdifferenzierung zwischen Romanwelt und Leserwelt, die durch solche Objekte betrieben wird, korrespondiert dem Inhalt des Romans, wo sich Pforten aus dem Alltag in phantastische Dimensionen der Realität öffnen. Analoges suggerieren Fundstücke aus Hogwarts, vor allem Büchlein wie das über Phantastische Tierwesen und über Quidditch, in denen der Romanheld seine Spuren hinterlassen hat.