Y.
Schreiben auf sich verzweigenden Pfaden. Lexika von Dichtern, Büchern und Texten als Formen der Metaliteratur
(A) Borges als Wegbereiter einer Enzyklopädie fiktiver Autoren

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»Pierre Menard, autor del Quijote«
Zu den berühmtesten Erzählungen von Borges über erfundene Autoren gehört der Bericht über das literarische Oeuvre des Pierre Menard, der gerade diese Idee des ›Eigentums‹ an Werken anderer Autoren repräsentiert – Menard nimmt sich vor, den »Don Quijote« des Cervantes noch einmal zu schreiben, und er realisiert dieses Projekt zumindest teilweise. Borges’ Text über Pierre Menard beschreibt und kommentiert das Projekt anläßlich eines Nachrufs auf Pierre Menard. (Dabei wird in einem großangelegten Gedankenexperiment mit den Konzepten Autorschaft, Identität des Textes, Textbedeutung gespielt.)
Doch in seiner Erzählung über Pierre Menard beschreibt Borges nicht allein das von diesem hinterlassene »Quijote«-Fragment, das er als dessen (wenn auch ›unsichtbares‹) Hauptwerk bezeichnet, sondern er listet auch eine ganze Reihe von anderen (›sichtbaren‹) Werken auf, die Menard hinterlassen haben soll. Sein Katalog der hinterlassenen Werke Menards, der der Schilderung des Quijote-Projekts vorangestellt ist, umfaßt 19 Titel und füllt ungefähr zwei Druckseiten. Es handelt sich also um ein Verzeichnis von imaginären Werken eines imaginären Autors, das wegen seines Anspruchs, eine vollständige Übersicht zu bieten, ›enzyklopädischen‹ Charakter hat.

»Ich sagte, das sichtbare Werk Menards sei leicht aufzählbar. Nach geflissentlicher Überprüfung seines Privatarchivs habe ich festgestellt, daß es aus den im folgenden aufgezählten Stücken besteht: a) Ein symbolistisches Sonett, das zweimal (mit Variationen) in der Zeitschrift ›La conque‹ (März- und Oktobernummer 1899) erschien.
b) Eine Monographie über die Möglichkeit, ein poetisches Vokabular aufzustellen, dessen Begriffe nicht Synonyme oder Umschreibungen der in der gewöhnlichen Sprache verwendeten Begriffe sein sollten, ›vielmehr von einer Konvention erschaffene und hauptsächlich für dichterische Notwendigkeiten bestimmte Idealgegenstände‹ (Nîmes, 1901).
c) Eine Monographie über ›gewisse Konnexionen oder Affinitäten‹ im Denken von Descartes, Leibniz und John Wilkins (Nîmes, 1903).
d) Eine Monographie über die ›Characteristica universalis‹ von Leibniz (Nîmes, 1904).
e) Ein technischer Artikel über die Möglichkeit, das Schachspiel zu bereichern, indem man einen Turmbauern ausscheidet. Menard schlägt diese Neuerung vor, empfiehlt sie, erörtert sie, um sie schließlich zu verwerfen.
f) Eine Monographie über die ›Ars Magna Generalis‹ des Raimundus Lullus (Nîmes, 1906) [...]
g) Eine Übersetzung mit Vorwort und Anmerkungen des ›Libro de la invención liberal y arte del juego del axedrez‹ [=Schach] von Ruy López de Segura (Paris, 1907)
h) Die Skizzenblätter einer Monographie über die symbolische Logik des George Boole.
i) Eine Untersuchung der metrischen Gesetze der französischen Prosa, erläutert an Beispielen von Saint-Simon (Revue des langues romanes, Montpellier, Oktober 1909)
j) Eine Erwiderung an Luc Durtain (der das Vorhandensein derartiger Gesetze geleugnet hatte), erläutert an Beispielen von Luc Durtain (Revue des langues romanes, Montpellier, Dezember 1909)
k) Eine handschriftliche Übersetzung der ›Aguja de navegar cultos‹ von Quevedo, betitelt ›La boussole des précieux‹.
l) Ein Vorwort zu dem Katalog einer Ausstellung von Lithographien vom Carolus Hourcade (Nîmes, 1914).
m) Das Werk ›Les problèmes d’un problème‹ (Paris, 1917), das in chronologischer Ordnung die Lösungen des berühmten Problems von Achilles und der Schildkröte erörtert. Zwei Auflagen dieses Buches sind bisher erschienen; die zweite zitiert als Epigraph den Rat von Leibniz: ›Ne craignez point, monsieur, la tortue‹, und bringt die Kapitel, die Russell und Descartes gewidmet sind, in neue Fassung.
n) Eine eindringliche Analyse der ›syntaktischen Gewohnheiten‹ von Toulet (N.R.F., März 1921). Menard, so erinnere ich mich, erklärt, Tadel und Lob seien Gefühlsäußerungen, die mit der Kritik nichts zu tun hätten.
o) Eine Übertragung des ›Cimetière Marin‹ von Paul Valéry in Alexandriner (N.R.F., Januar 1928).
p) Eine Invektive gegen Paul Valéry in den ›Blättern zur Unterdrückung der Realität‹ von Jacques Reboul. (Diese Invektive ist, in Klammern gesagt, die genaue Kehrseite seiner wirklichen Meinung über Paul Valéry. Dieser verstand sie auch so, und sie tat der langjährigen Freundschaft zwischen beiden keinen Abbruch.)
q) Eine ›Definition‹ der Comtessa di Bagnoregio in dem ›siegreichen Band‹ – die Redewendung stammt von einem anderen Mitarbeiter, Gabriele d’Annunzio –, den diese Dame jährlich herausbringt, um die unvermeidlichen Verfälschungen in der Presse richtigzustellen und ›der Welt und Italien‹ ein authentisches Bild ihrer Person vorzuführen, da diese (auf Grund ihrer Schönheit sowie ihres Verhaltens) irrigen oder übereilten Deutungen ausgesetzt ist.
r) Ein Zyklus bewundernswerter Sonette für die Baronesse de Bacourt (1934). s) Eine handgeschriebene Liste von Versen, die ihre Wirkung der Interpunktion verdanken.« (Borges 1970, 162ff.)

Hinzukommen einige »unscheinbare Gelegenheitssonette« für eine befreundete Dame.

Neben Arbeiten zu Philosophie, Mathematik, Semiotik, Paradoxe und Schach werden literarische Übersetzungen angeführt, die Menard angeblich verfaßt hat, eine Abhandlung über Metrik und eine öffentliche Auseinandersetzung mit Paul Valéry. Die aufgelisteten imaginären Werke Menards beziehen sich mehrfach auf wirkliche Autoren und Werke. Zudem stehen sie in manchen Beziehungen zu Werken von Borges. So taucht in dessen Schriften das Schachmotiv auf, das Paradox um Achilles und die Schildkröte, die Frage des Infiniten, das Projekt einer Quevedo-Übersetzung (am Ende der Tlön-Geschichte!) etc.