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Schreiben auf sich verzweigenden Pfaden. Lexika von Dichtern, Büchern und Texten als Formen der Metaliteratur
(A) Borges als Wegbereiter einer Enzyklopädie fiktiver Autoren

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Menard als programmatische Reflexionsfigur. Pierre Menard gehört zu den vielen Schriftsteller-Gestalten in Borges’ Werk, die ganz programmatisch auf der konventionellerweise akzeptierten, von Borges hingegen unterlaufenen Grenzen zwischen Realem (Historischem) und Fiktivem (Imaginärem) angesiedelt sind: Einen Autor dieses Namens hat es tatsächlich gegeben, und was in der Erzählung über ihn berichtet wird, berührt sich teilweise mit den sogenannten Tatsachen. Aber Menard wird gründlich ›durchfiktionalisiert‹: Der überwiegende Teil des Berichts über sein Werk ist eine Erfindung. Borges entlehnt den Namen eines Kollegen, um ihm das Projekt einer Rekonstruktion des »Don Quijote« zuzuschreiben. Er wählt mit diesem heute unbekannten zeitgenössischen Autor eine historische Spielfigur, mit der er eine weitere seiner Spielpartien arrangiert. Thematisch besitzt die Erzählung über Pierre Menard starke Affinitäten zu den Jahrzehnte später formulierten kritischen Reflexionen Foucaults über den »Autor«.

Autorschaft/Nichtautorschaft. Die Erzählung wirft diejenigen Fragen auf, die sich bei Foucault teilweise ausdrücklich formuliert finden. (Borges setzt – und dies ist ein Gedankenexperiment mit erheblichen Folgen – diejenigen Denk-Konventionen versuchsweise außer Kraft, welche sich normalerweise mit dem Modell »Autorschaft« verbinden. Er tut dies paradoxerweise jedoch, indem er vordergründig an der Idee der »Autorschaft« gerade festhält.)

Enthierarchisierungen. Ironie gegenüber der Philologie kennzeichnet Borges’ Werke immer wieder. Borges erkennt keine Hierarchien an: die zwischen ›primären‹ und ›sekundären‹ Texten ebensowenig wie die zwischen ›primären‹ (den sogenannten realen) Wirklichkeiten und ›sekundären‹, den sogenannten Fiktionen. Und den größtmöglichen Respekt zollt er bereits gedachten Gedanken, indem er sie neu erfindet, sie fiktiven Figuren in den Mund legt oder einem Double namens Borges. Pierre Menard ist eines der Rollen-Ichs des Autors Borges. Er macht ernst damit, nicht Autor sein zu wollen, indem er das Werk eines anderen zu schreiben unternimmt. Ausdrücklich verworfen wird dabei die Strategie der Identifikation mit Cervantes; in diesem Fall würde Menard immerhin noch die Autor-Rolle spielen. Aber er will ›als Menard‹ das Werk des Cervantes schreiben – was bedeutet, die Beziehung zwischen Schriftsteller und Werk für beliebig zu erklären, also das Bedingungsverhältnis »Autorschaft« zu negieren. Die Kehrseite dieses Befundes ist, daß das Andere und das Eigene auch in dem Sinne nicht zu trennen sind, daß, wann immer ein Schreibender die Texte anderer zitiert, er sie sich anverwandelt und zu eigenen macht (entsprechend dem Modell »Menard«). Dieser Gedanke wird von Borges auch auf Nietzsche bezogen, der das Recht gehabt habe, etwas als seine Lehre auszugeben, was eigentlich nur das Zitat früherer Lehren war. Wer mitspielt, der hat Teil an der Partie. Aneignung ist kein Diebstahl, da sich die angeeignete Materie ohnehin ständig verwandelt. Nietzsche hat Pythagoras verdaut, so daß dessen Gedanken ein Teil von ihm geworden sind.

»Wenn mein menschliches Fleisch rohes Schaffleisch assimilieren kann, wer sollte den menschlichen Geist hindern, menschliche Geisteszustände zu assimilieren?« (Borges 2005, 229)

Unendlichkeit. Was haben Borges’ Erfindungen eigentümlicher literarischer Projekte mit dem Thema »Unendlichkeit« zu tun? Inwiefern verweisen sie – wie ›poetische Listen‹ auf eine Idee der »Unendlichkeit«? Darauf gibt es zwei Antworten:
Erstens gehören zu den von Borges erfundenen (und im Fall von Herbert Quain ›aufgelisteten‹) literarischen Projekten solche, die strukturell eine Idee von Unendlichkeit vermitteln: Es geht um labyrinthische Romanprojekte, die sich unendlich verzweigen und als Projekte unendlich modifiziert werden können. Zweitens bewirkt die Dekonstruktion/Aufhebung des Konzepts persönlicher »Autorschaft«, daß jeder Schriftsteller bzw. sein Œuvre potenziell ›unendlich‹ sind: Wenn es keinen persönlichen Besitz an Texten gibt, wenn jeder alles schreiben kann, dann ist das Werk eines jeden un-endlich. Zugleich ist jedes Werk un-endlich, denn wenn es von prinzipiell unendlich vielen Schriftstellern neugeschrieben werden kann, dann ist es unendlich fortführbar. Weder für »Autorschaft« noch für ein »Werk« gibt es Grenzen. Die Literatur ist aus borgesianischer Sicht ein Reich des Un-Endlichen.

Poetische Listen. Borges’ Verzeichnisse imaginärer Werke verstehen sich als ›poetische‹ Listen. Sie wollen nicht eine bestimmte gegebene Zahl literarischer Werke auflisten und dem Leser so eine Übersicht (Orientierung) verschaffen, sondern sie sprechen von diesen Titeln, um die Endlichkeit aller Listen in einen Kontrast zur Unendlichkeit des Möglichen zu stellen.
Indem in der Menard-Erzählung von Menards »sichtbarem« und seinem »unsichtbaren« Werk die Rede ist, trifft Borges eine Differenzierung, welche auf die zwischen ›pragmatischen‹ Listen und ›poetischen‹ Listen zumindest vorausdeutet. Das sichtbare Werk Menards ist endlich und überschaubar. Das ›unsichtbare‹ ist unüberschaubar. Und es vermittelt eine ›Idee der Unendlichkeit‹. Denn erstens hat sich Pierre Menard wohl eine un-endliche Aufgabe gestellt. Und zweitens könnte dann, wenn Menard den »Don Quijote« noch einmal schreibt, eigentlich jeder dasselbe tun – bis ins Unendliche. Wenn der Fall Menard ein Modell literarischer Rezeption ist, dann ist Rezeption ein unendlicher Prozeß – und jedes rezipierte Werk hat etwas Un-Endliches.

Eco hat sich mit Borges bekanntlich intensiv auseinander gesetzt. Seine Unterscheidung zwischen pragmatischen Listen und poetischen Listen dürfte durch Borges mit inspiriert sein.