Y.
Schreiben auf sich verzweigenden Pfaden. Lexika von Dichtern, Büchern und Texten als Formen der Metaliteratur
(B) Stanislaw Lem als Wegbereiter einer Enzyklopädie fiktiver Autoren

 1 | 2 | 3 

Lem und Anti-Lem. Mit den fingierten Büchern hat Lem demnach einen Anti-Lem als Autor erfunden – ein alter ego, das ganz andere Anschauungen vertritt als er selbst. Das fingierte und rezensierte Buch »Die neue Kosmogonie« schließlich sei in besonderem Maße das Gegenstück zu anderen Lemschen Werken.

»›Die Neue Kosmogonie‹ ist die fiktive Rede eines Nobelpreisträgers, sie umreißt ein revolutionäres Bild des Universums. [...] Ich habe den Verdacht, es handle sich wieder um ein Konzept, das dem Autor aufleuchtete – und vor dem er zurückschrak. Selbstverständlich wird er das nie zugeben, und weder ich noch irgendjemand wird ihm beweisen können, daß er den Kosmos als Spiel ernst genommen hat. Er kann sich stets auf die Spaßhaftigkeit des Kontextes berufen, auf den Titel des Buches (›Die vollkommene Leere‹ – als[o] wird über nichts gesprochen); außerdem – das beste Asyl, die beste Ausrede ist die licentia poetica.
Dennoch bin ich der Meinung, daß sich hinter all diesen Texten der Ernst verbirgt. Der Kosmos als Spiel? Intentionale Physik? Als Verehrer der Wissenschaft, der vor ihrer heiligen Methodologie auf dem Bauch liegt, konnte Lem sich nicht zu ihrem ersten Häresiarchen und Abtrünnigen erheben. Er konnte deshalb diesen Gedanken in keine diskursive Aussage einfügen. Andererseits, die Idee des ›Kosmos als Spiel‹ zur Achse eines Handlungsfadens zu machen, hätte bedeutet, ein weiteres, soundsovieltes Buch der ›normalen Science Fiction‹ zu schreiben.« (Lem 1981, 10f.)

In diesen Passagen, in denen der ›Vorredner‹ Lem die ›Rezension‹ Lems über ein von Lem fingiertes Buch kommentiert, geht es um drei Lems: Dem einen (A) wird die Verfasserschaft des (imaginären) Buchs »Die Neue Kosmogonie« zugeschrieben; der zweite (B) ist Rezensent dieses Buchs, und der dritte (C) kommentiert die Rezension. C stellt die Hypothese auf, B habe A zwar kritisiert, aber im Werk von A drücke sich ein ernstgemeinter Gedanke von Lem aus. Dieser habe seinem sonstigen Werk allerdings nicht direkt widersprechen wollen (dem Werk eines Lem D sozusagen), so daß er sich hinter Lem A verborgen habe. Dem Vorredner Lem C ist dabei durchaus klar, daß Lem A die Fiktion von Lem B ist.

Also: Lem wollte etwas schreiben, das zum Werk von Lem nicht paßt. Und darum – so die These des Vorredners (C) – hat Lem seine Gedanken einfach auf eine ganz eigenwillige Weise verschwiegen.

»Was blieb übrig? Für den gesunden Menschenverstand nichts anderes, als zu schweigen. Bücher, die ein Schriftsteller nicht schreibt, die er bestimmt nicht in Angriff nimmt, was auch geschehen mag, denen man fiktive Autoren zuschreiben kann – sind solche Bücher nicht dadurch, daß sie nicht existieren, dem feierlichen Schweigen seltsam ähnlich? Kann man sich noch mehr von heterodoxen Gedanken distanzieren? Redet man von diesen Büchern, von diesen Auftritten als von fremden Äußerungen, dann ist das fast, als spräche man – schweigend.« (Lem 1981, 11)

Das ganze Buch, so die einleitende Hypothese, ist die Darstellung verschwiegener Werke.

»Also – aus jahrelang unter dem Herzen getragenem Hunger nach einem nahrhaften Realismus, aus Gedanken, die den eigenen Anschauungen kraß entgegenstehen und deshalb nicht direkt ausgesprochen werden können, aus allem, wovon man vergeblich träumt, ist ›Die vollkommene Leere‹ entstanden. Die theoretische Einleitung, die scheinbar die ›neue literarische Gattung‹ begründet, ist ein Manöver, um die Aufmerksamkeit abzulenken, eine absichtlich exponierte Bewegung, mit der der Zauberkünstler unseren Blick von dem ablenkt, was er wirklich tut. [...] Nicht der Trick der ›Pseudorezension‹ hat diese Werke geboren, sie selbst haben sich, vergeblich nach Ausdruck verlangend, dieses Tricks als Exkusation und Vorwand bedient. Ohne diesen Trick wäre das alles in der Sphäre des Verschweigens geblieben. Es handelt sich nämlich um einen Verrat an der Phantasie zugunsten eines gut geerdeten Realismus, um eine Verleugnung in der Empirie, um eine Häresie in der Wissenschaft.« (Lem 1981, 12)

Lems Multiplikation. In einer neuerlichen Volte spekuliert nun Lem (C), was sich Lem bei diesem Manöver gedacht habe, indem er als Lem B einen Lem A fingierte, der Lem D widerspricht.

»Sollte Lem geglaubt haben, seine Manipulation werde nicht durchschaut werden? Dabei ist sie sehr einfach: lachend das hinausschreien, was man ernsthaft nicht zu flüstern wagte.« (Lem 1981, 12)

Als Lem B, der Lem A rezensierte, konnte, so Lem C, Lem alles sagen, was er sonst nicht sagen konnte, und er war dabei noch nicht einmal darauf verpflichtet, zum indirekt Gesagten zu stehen:

»Trotz allem, was die Einleitung sagt, muß der Kritiker nicht an das Buch geschmiedet sein wie der Zwangsarbeiter an die Schubkarre; nicht darin besteht seine Freiheit, daß er ein Buch in den Himmel heben oder herabsetzen kann, sondern darin, daß er durch das Buch wie durch ein Mikroskop den Autor betrachten kann. Dann aber erweist sich ›Die vollkommene Leere‹ als Geschichte von dem, was man haben möchte, aber nicht hat. Sie ist ein Buch voll unerfüllter Träume. Und die einzige Finte, die der hakenschlagende Lem noch anwenden könnte, wäre der Gegenangriff in Gestalt der Behauptung, nicht ich, der Kritiker, sondern er selbst, der Autor, hätte nicht die vorliegende Rezension geschrieben und sie zu einem weiteren Teil der ›Vollkommenen Leere‹ gemacht.« (Lem 1981, 12)

Die Einzelbeiträge des Bandes bieten dann fingierte Inhaltsangaben zu Werken, die verschiedenste Themen behandeln: »sogenannten Modernismus der Literatur«, »Zivilisationsauswüchse, Sexprotzer, hochzivilisierte Schreiberlinge, überdrehte Philosophen und Wissenschaftler«; damit verbindet sich Kritik »an politischen Systemen und Zensurmaßnahmen, [...] Computer- und Reklamegesellschaft«; hinzu kommen die »Besprechung eines Nichtromans« und Reflexionen »über die Unmöglichkeit, überhaupt ein Buch zu schreiben« (Hasselblatt 1990, 173).

Eine Interpretation zu Lems »Die vollkommene Leere« bietet Franz Rottensteiner: Lem sei ein Spötter, und er bezweifle »die geheiligten Grundlagen von Kultur und Literatur wie die Objektivität der Wissenschaft und selbst sein (Lems) ›Allerheiligstes‹, die ›Wahrscheinlichkeitstheorie‹« (Rottensteiner 1979, 157).