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Schreiben auf sich verzweigenden Pfaden. Lexika von Dichtern, Büchern und Texten als Formen der Metaliteratur
(B) Stanislaw Lem als Wegbereiter einer Enzyklopädie fiktiver Autoren

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»Wielkosc urojona (dt. »Imaginäre Größe«)
Die hier zusammengestellten Texte sind Darstellungen verstiegener naturwissenschaftlicher Theorien und naturwissenschaftlich-technischer Experimente. Die behandelten Werke – imaginären Autoren zugeschrieben – tragen oft die Namen neuer Disziplinen; die Titel lauten: Cezary Strybisz: Nekrobien; Reginald Gulliver: Eruntik; Juan Rambellais: Geschichte der bitischen Literatur; Vestrands Extelopädie in 44 Magnetbändern; Vestands Extelopädie: Probebogen; Golem XIV, Vorrede, Vorwort, Belehrung, Golems Antrittsvorlesung.
Wenn das Buch »Vestrands Extelopädie in 44 Magnetbänden« vorgestellt wird, so teilt der Erzähler im Zusammenhang damit auch Auszüge mit. Es handelt sich um eine Enzyklopädie der Zukunft. Aus der Ankündigung, in der verschiedene Alternativformen der Enzyklopädie umrissen werden:

»[...] Die traditionellen Enzyklopädien, die seit zwei Jahrhunderten in allgemeinem Gebrauch sind, begannen in den siebziger Jahren eine ernste Krise durchzumachen, die dadurch hervorgerufen wurde, daß die in ihnen enthaltenen Informationen sich bereits zu dem Zeitpunkt, als sie die Druckerei verließen, als veraltet erwiesen. Der Auzyk, das heißt die Automatisierung des Produktionszyklus, konnte das nicht verhindern, denn die Zeit, die die Experten – die Autoren der Stichworte – brauchen, läßt sich nicht auf Null reduzieren. So verstärkte sich mit jedem Jahr die Inaktualität der modernsten Enzyklopädien, die schon, wenn sie in die Regale gelangten, nur noch einen historischen Wert hatten. Viele Herausgeber versuchten dieser Krise vorzubeugen, indem sie jährlich und dann vierteljährlich besondere Ergänzungsbände veröffentlichten, bald jedoch übertrafen jene Ergänzungen in ihrem Umfang die eigentliche Ausgabe. Das Bewußtsein, daß sich dieser Wettlauf mit der Beschleunigung der Zivilisation nicht gewinnen lasse, entmutigte schließlich Herausgeber und Autoren.
Es kam also zur Ausarbeitung der Ersten Delphiklopädie, also einer Enzyklopädie, die eine Sammlung von Stichworten war, mit Inhalten, die für die Zukunft vorhergesagt wurden. Jedoch die Delphiklopädie entsteht in Anlehnung an die sogenannte Delphische Methode, das heißt, banal ausgedrückt, dank der Abstimmung befugter Experten. Da sich indes die Meinungen der Experten nicht immer decken, enthielten die ersten Delphiklopädien Stichworte in zwei Varianten über ein und dasselbe Thema – entsprechend der Meinung und der Minorität der Fachleute, oder sie besaßen zwei Versionen (Maxiklopädie und Miniklopädie). Die Abnehmer akzeptierten jedoch diese Neuerung nur unwillig [...].« (Lem 1982, 87f.)

Letztlich, so ein Kritiker, informiere ein solches Werk ja nicht über Inhalte, sondern über den Streit zwischen Fachleuten. Darum ist die »Extelopädie« statt von Menschen von Computern hergestellt worden – eine, wie es heißt, »›menschenfreie‹, also auch fehlerfreie Arbeit unserer achtzehntausend KOMFUTER (futurologischer Komputer)« (Lem 1982, 88).

»Die Extelopädie bringt Informationen über die Historie, die erst geschehen wird, das heißt über die allgemeine Werdezeit, über kosmonomische, kosmolytische und kosmatische Dinge, über alles, was entführt werden wird, einschließlich der Daten, mit welchem Ziel und von welchen Standpunkten aus das erfolgen wird, sowie die Angaben über die neuen großen Errungenschaften der Wissenschaft und Technik nebst der Spezifizierung all dessen, wodurch sie persönlich am meisten bedroht sein werden, über die Evolution der Religionen und Glaubensbekenntnisse, u.a. unter dem Stichwort FUTURELIGIONEN sowie über 65760 andere Fragen und Probleme.« (Lem 1982, 89)

Parodistische Zukunftsvisionen. Die Schilderung des enzyklopädischen Projekts ist zum einen durch diverse Aufzählungen (Listen) geprägt, vor allem aber durch eine parodistische Vorliebe für Abkürzungen. Als entscheidende prognostische Hypothese genannt wird die Ausgangsidee, daß die Menschen der Zukunft wie die der Gegenwart dumm sein und dummes Zeug reden werden; damit hatten frühere Prognostiker nicht kalkuliert. Die Prognostik umfaßt die antizipatorische Entwicklung einer Sprache der Dummen, in der die erste Version der Zukunftsenzyklopädie verfaßt war, die darum aber für die Gegenwart unverständlich, unlesbar war. (Diese Idee, nebst den Listen, erinnert an die Schilderung des enzyklopädischen Projekts von Tlön durch Borges.)
Die »Bitistik« (von ›bites‹) behandelt die Übernahme menschlicher Funktionen durch Computer/Maschinen; ›bitistische‹ Literatur ist computergenerierte Literatur. Aus der Einführung in die »Geschichte der bitischen Literatur in fünf Bänden«:

»Unter bitischer Literatur verstehen wir jedes Erzeugnis nichtmenschlicher Herkunft, das heißt ein solches, dessen eigentlicher Autor kein Mensch gewesen ist (er konnte es hingegen mittelbar gewesen sein – indem er Tätigkeiten ausführte, die den eigentlichen Autor zu schöpferischen Akten provozierten). Die Disziplin, die die gesamte Kollektion solcher Schriften untersucht, ist die Bitistik.« (Lem 1982, 51)