A.
Ausgangsüberlegungen:
Literatur als Reflexion über Wissen
Das Alphazet
Satire, Neologismen, Schaustücke

Wo es um die Auseinandersetzung mit unbedacht verwendeten oder ideologisch funktionalisierten Worthülsen geht, rückt das »Alphazet« der lexikographischen Satire oder satirischen Lexikographik nahe. An Fundstücken aus dem öffentlichen, dem wissenschaftlichen und politisch-weltanschaulichen, dem ökonomischen und psychologischen Diskurs fehlt es nicht, gehe es nun um die ANSCHLUSSFÄHIGKEIT, die ARMUTSFALLE, die FRIEDHOFSKULTUR (»Friedhöfe – das Gedächtnis unserer Stadt. Man muss diesen Satz zweimal lesen, um die Ungeheuerlichkeit zu begreifen, die da steht. Beim dritten Mal fällt einem ein, wieviel schlichtes Wissen um die menschlichen Dinge beerdigt wird, sobald es einer Theorie beifällt, Gedenk- und Gedächtnisorte so miteinander zu vermengen.« Art. FRIEDHOFSKULTUR), das HUMANKAPITAL, den FÖRDERWILLE(N) und anderes mehr. Das Passepartoutwort ›Kultur‹ wird unter anderem im Artikel GESCHNATTER gewürdigt (präsentiert wird hier »(e)in Beispiel für die Verheerungen, die das Wort ›Kultur‹ über die nützlichsten Erfindungen bringt«). Redensarten und Ausdrucksweisen werden auf ihre doppelten Böden abgeklopft, wie etwa der verräterische Ausdruck ASTLACHEN (»Sich einen Ast lachen: soviel wie sich krumm lachen, einen ungewöhnlichen Heiterkeitsausbruch hinlegen, auf Kosten anderer triumphieren, aber im Verborgenen (oder auch nicht), einen vom anderen übersehenen Vorteil einstreichen, unverhofft auf seine Kosten kommen, dem (den) Mitmenschen das Nachsehen geben.«– Art. ASTLACHEN). Aber es geht auch um Formen sprachlicher Performanz oder, schlichter gesagt, um Redeweisen und Gesprächsformen wie etwa den KLATSCH. Im Artikel DONNERWOHNUNGEN erfährt man, woraus sich der »Ort der Demokratie« ergibt (»Die Großen wohnen in Donnerwohnungen, die Kleinen in Wisperkammern«). Und die Artikel GESCHNATTER und GESCHWÄTZ stehen – sinniger Zufall – direkt vor GESELLSCHAFT. Aber es wird nicht nur beobachtet, es wird auch mit Wörtern gespielt, wobei es denn geschehen kann, daß KONFITÜRE und Confiteor einander verräterisch naherücken (KONFITÜRE).

Neologismen und Neuentdeckungen sprachlicher Erbstücke spielen eine wichtige Rolle, vor allem als Konkretisierungen jener in der Vorrede angesprochenen Geste des Ausgreifens, der Entschränkung, des Weitergehens. Wer wüßte nicht gerne, was sich hinter dem Lemma ANÖDE verbirgt? Oder hinter APHOSACK, AUFZIEHTHEORIE, DÄMONENSCHNACK, DAMPFPLAUDERER, FREMDGEDANKEN, FÜHLIGKEIT, GESINNUNGSSCHLAFMÜTZE, LEIDMASCHINE? Was ist eine RESPONSIONSARENA, was ist SCHREIBLYCHTEN? (Letzteres wird explizit als Wiederentdeckung vorgestellt. Vgl. den Artikelanfang: »Immer wieder bedarf es der Erläuterung alter Begriffe, die nicht so handgreiflich zu verstehen sind wie Hausfibel, Schlohbart oder Labelunz, die ja noch alle, jedenfalls im alten Schlesien, gut bekannt und bis heute deutbar geblieben sind, mögen sie inzwischen auch eine polnische Wiedergeburt erfahren haben.« – Art. SCHREIBLYCHTEN) – Unter solche und andere Seltsamkeiten mischen sich ZAUBERWÖRTER und Sprachchimären (vgl. den Artikel SPRACHCHIMÄRE) sowie diverse seltsame Wortwesen (vgl. etwa den Artikel LESEHIRSCH, BEISSRÜPEL, KLEINER RIESE ÜBERZWERCH). Eine Kohorte von Wortgeburten bevölkert das »Alphazet«, die manchmal an Benjamins »Mummerehlen« erinnern mögen (Walter Benjamin: Die Mummerehlen. In: Gesammelte Schriften IV/1, hrsg. von Tilman Rexroth, Frankfurt/M. 1991, 260-261), und die Kohabitation seiner Bewohner führt zu manch eigentümlichen Nachbarschaften.
Wörter provozieren; davon berichtet etwa der Artikel REIZWÖRTER, in dem eine rätselhafte Reaktion des Lesers suggeriert wird (»So schreiben, dass es den Leser kitzelt: er lacht, er wehrt sich, er schlägt nach etwas, das er nicht sieht, er wird wild, er springt aus dem Bett, das er erst später zu verlassen gedachte, er rennt im Kreis, er weiß sich nicht anders zu helfen als... Als? Gute Güte! Er wird doch nicht? Ja, er wird, er hat schon.« Art. REIZWÖRTER), Wörter verleiten zu Riskantem, wie der Artikel LOCKUNG andeutet, der allerdings auch die (weniger attraktive) Alternative benennt: »Bravsein mit Wörtern – eine Art Unzucht, der sich gern hingibt, wer nichts zu bestellen hat.« – Wo es um Sprache und ihren Gebrauch geht, stellen sich unausweichlich Fragen nach Herrschaftsverhältnissen und Ansprüchen auf Beherrschung, wie unter anderem der Artikel SPRACHBEHERRSCHUNG betont, der angesichts des inkalkulablen Eigenlebens der Sprache Ambitionen auf ihre ›Beherrschung‹ als trügerisch ausweist:

»Alle hundert Jahre erneuert sich diese Sprache, entledigt sich des Bluts und des Grauens, unter deren Krusten sie fast erstickt wäre, und beginnt zu flüstern, sie biegt sich, sie dehnt sich, es kommt etwas in sie hinein, während draußen irgendein Fortschritt rasselt: dieses Flüstern, wer schreibt es auf? Wer notiert die linden, die lindernden Wirkungen einer Sprache, die doch kaum einer kennt, kaum einer kennen kann, weil sie nur eben so im Entstehen... ›im Entstehen erhascht‹, das ist ein angenehmes Wort, ein Wort von großer Schönheit, wenn man es aus der Nähe erfährt. Aber diese Sprache ist niemandes Sprache, die Eigentumsrechte, die geselligen Rechte an ihr zerfallen zu Staub, sie zerfallen denen im Mund, die lieber an ihnen ersticken als sie hergeben wollen. Sie zieht sich heraus – vielleicht ist es das, was die guten Leute verunsichert. »Wir beherrschen unsere Sprache nicht mehr«: mit diesem Schreckensruf reisen Kritiker durch die Lande und versuchen ihre Klientel wachzurütteln. Das waren noch Zeiten, als man mit ihr tun und lassen konnte, was man wollte. Herrschaftszeiten, kein Zweifel. Die Sprache, der Fuchtel der Herrschaften entschlüpft, geht diesseits des Geschreis und Gestöhns ihres Wegs.« (SPRACHBEHERRSCHUNG)

Auf die quasi-somatische Bindung zwischen Sprache und ihren Benutzern verweisen Artikel über Sprachliches als etwas, das man schmecken kann, das man probiert, das einem auf der Zunge zergeht (wie im Artikel TEXTPROBE).

Wo Buchstaben, Wörter, sprachliche Wendungen und Sprache insgesamt in den Blick rücken, geht es vor allem um die Ausdrucksoptionen des Schriftstellers, der sich ihrer bedient – wie denn überhaupt das Thema ›Schreiben‹ einen Leitfaden durch das »Alphazet« bildet: das Schreiben, insofern es der Kommunikation dient (der die Beteiligten dann allerdings uneinlösbare Erwartungen entgegen bringen mögen. Artikel FERNE: »Alles Schreiben geht in die Ferne, aber die Menschen machen sich nicht klar, was das bedeutet. Sie wollen Rapport: sofort. Man kann das verstehen, aber nicht wirklich.«), der SCHREIBFLUSS (dem ein eigener Artikel gilt), aber auch den Texten als etwas, mit dem Wirklichkeit entsteht (Artikel TEXTUM SANCTUM: »Was man das Imaginäre nennt, ist eine ungeheuerliche Verharmlosung angesichts des Eingriffs, den der Text im Leben des Einzelnen vornimmt.«). Formuliert werden, ironisch gebrochen, auch Schreibmaximen, so in den Artikeln AUSSETZER (»Man muss seine Gedanken aussetzen, wie man Fische aussetzt – nicht der obligaten Kritik, diesem Gesäusel unter dem Einfluss widriger Analgetica, sondern dem Element, in dem sie ihre natürliche Regsamkeit unter Beweis stellen, in dem sie sich paaren und irgendwann absterben«) und GLÜCKSHORMON: »Finde für alles den krassesten Ausdruck – und verwirf ihn.« Und hatte die Vorrede darauf insistiert, dass es stets ein Jemand ist, der schreibt, auch wenn er nur Spuren hinterlässt, so bestätigt sich dies im Durchgang durchs »Alphazet« auf verschiedene Weisen – nicht zuletzt in Artikeln, die die aus anderen Werken bekannte Signatur der »Alphazet«-Autoren tragen, aber auch via negationis. Der Artikel MASCHINENTEXTE gilt dem Gedankenspiel, wie es wäre, wenn niemand schriebe:

»Jeder, der sich im automatischen Schreiben versucht, macht die Erfahrung, dass es nicht geht. Die Instanz, die unsereins manchmal Geist, manchmal Bewusstsein und manchmal einfach Verstand nennt, weil das Wort Vernunft immer gleich mehr Fragen aufwirft, als zu beantworten sind, ist unhintergehbar. (..)Was aber geht, was wirklich geht und gelegentlich, ohne dass man es will oder weiß, wie man hineingeraten konnte, ist eine Explosion an sprachlicher Kraft, die sich selbst steuert und ihre Wege geht, als seien sie ihr vorgezeichnet, mit jener seit alters ›divinatorisch‹ genannten Sicherheit, die besser eine Unsicherheit genannt werden sollte, weil ihr Begleiter, die ausdenkende und -malende Phantasie, dabei immer wieder ins Hintertreffen gerät und im Grunde von der Bewegung überrollt wird. Diese Kraft ist vielleicht die unruhig gewordene Vernunft, die sich aus den Beschränkungen losrüttelt, die ihr im Alltag auferlegt sind, weil Gefahr im Verzug ist.«

Zahlreiche Selbstreferenzen des »Alphazet« runden das Bild ab: Artikel über das »Alphazet«...

»Es gibt kein Alphazet, außer man schreibt es. Der Alphazetismus besteht darin, einen Gedanken, den man lange gedacht hat, zu ergreifen, sobald er sich flügge zeigt, als eine Geste der Erschließung all dessen, was Menschen mangels überzeugenderer Konzepte niemals aufhören werden, als wirklich zu bezeichnen. Ins Gehege des Alphabets findet die Wirklichkeit kaum anders hinein als eine Daphne in den Lorbeer – rasch, aus einer gewissen Atemlosigkeit heraus, im Sich-Umwenden, im Entgleiten der Bewegung, die eben noch alles beherrschte und jetzt den Körper in Wellen verlässt, die den Betrachter wie Windgekräusel anmuten. (...).« (Artikel ALPHAZETISMUS)

... über das »Analphazet«...

»Das Analphazet wäre das Alphazet noch einmal, aber rückwärts, doch da diese Vorstellung unbefriedigend bleibt, entspricht jedem Artikel des Alphazet ein zweiter, unter einem anderen Stichwort, als Gegenstück, das die Information enthält, die dem Leser gerade abgeht. Das wurde so eingerichtet, weil Information von Haus aus paradox ist und nur Leute anspricht, die schon informiert sind. So ruft ein Gedanke Aha!, wenn ein weit entfernter gemeint ist. Der entfernte muss also gefunden werden, aber keine Suche bringt ihn dem Suchenden näher.« (Artikel: ANALPHAZET)

... aber auch andere, so die Artikel KAIOPTAITOMON und PATHÉTIQUE; dem letzteren zufolge dient das »Alphazet« einer »Entspannung der Netze zwischen gesprochenen und gesendeten Worten«, da es »von unbewussten Ideen gestiftet, die Linien der bisher nur wenig betretenen Zukunft sowohl des Wassers wie der Erde« überwinde (PM). Und nicht zuletzt wird das WÖRTERBUCH gewürdigt:

»Wörterbücher sind das Α und Ω der Information. So steht am Anfang der Aufklärung – andere sagen: an ihrem Ende – Diderots Projekt der großen Encyclopédie: wer in ihr nachsieht, erfährt viel darüber, wie sich Menschen die Welt einmal gedacht haben. Die Welt? Welche Welt? Ihre Welt? Bei allem, was der Fall ist: so ist es nicht. Man erwirbt durch Schreiben keine Eigentumsrechte an der Welt, sonst sähe die Skala der Millionäre anders an. Andererseits: was wäre das Rechtsgeschäft ohne die Schrift? Eine dubiose Geschichte, wie mit ihr auch. Wer die Schrift beherrscht, beherrscht die Menschen. Beherrscht, wer die Schrift beherrscht, auch das Schreiben? (...) Ein gutes Wörterbuch wäre (...) der Abriss einer Technologie der Artikulation. Es informiert durch Desinformation und es macht vor, wie es geht, indem es vormacht, wie es nicht geht.« (WÖRTERBUCH)

Marcel Beyer hat sich einmal eine Vitrine aus Sprache ausgemalt, die es einzurichten gelte, einen Schaukasten aus Wörtern, der konstruiert werde, um Objekte auszustellen, analog zu einer Museumsvitrine (Marcel Beyer: Sprache als Erkenntnisort. In: Anke te Heesen / Petra Lutz (Hgg.): Dingwelten. Das Museum als Erkenntnisort, Köln/Weimar/Wien 2005, 119-127, hier 119f.) Eine solche Vitrine sei, so Beyers weitere Überlegung, wie alle Vitrinen ein eigentümliches Gerät: zum einen »Präsentationsfläche«, zum anderen eine »Truhe«, in der man auch etwas unzugänglich machen könne – zum einen Mittel der Darbietung, zum anderen gläserne Trennwand zwischen Betrachter und Objekt. Literarische Lexika, die ihre Gegenstände im Zeichen verfremdender Sprachbilder und Beschreibungen darbieten, könnte man als solche Sprachvitrinen interpretieren. Schaukasten für Schaukasten laden sie den Betrachter ein, durch sie selbst hindurch auf Wirkliches zu schauen, und signalisieren doch zugleich auch die Grenze, die ihn von den gezeigten Stücken Welt trennt. Museen sind, mit einer Formulierung Peter Sloterdijks, »Schulen des Befremdens« (»Museum – Schule des Befremdens« (1989). In: Peter Sloterdijk: Der ästhetische Imperativ. Schriften zur Kunst, hrsg. und mit einem Nachwort von Peter Weibel, Hamburg 2007, S. 354-370), und geschriebene Sprachvitrinen bilden in diesem Sinne Wort-Museen, in denen sich Befremdendes nicht weniger gut arrangieren lässt. Museen sind – auch das kommt dem Leser des »Alphazet« in den Sinn – aber selbst auch stets ästhetische Arrangements. Sie mögen wichtige praktische Funktionen haben (Belehrung, Dokumentation, Aufklärung...), sie wollen aber stets auch als Artefakte wahrgenommen werden – schon damit man die jeweilige Installation nicht naiv mit einer vermeintlich authentischen Wirklichkeit verwechselt. Was sich aus dem von ihnen vermittelten Befremden an praxisrelevanter Belehrung ziehen lässt, bleibt immer abzuwarten.

Auch zur Frage der praktischen Folgen scheint das »Alphazet« eine tröstliche Auskunft bereitzuhalten:

»Du hast gut reden, sagt die Kröte zum Walfisch, und wenn sich nichts einstellt? Dann war es ein Test und alle guten Leute gehen nach Hause.« (NEBENEINANDER)