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Tlön und seine Enzyklopädien
Hypothetische Rekonstruktionen

Das Rätsel um Tlön und seine Teil-Beschreibung durch den 11. Enzyklopädieband beschäftigt fortan eine Reihe von Leuten, die unterschiedliche Hypothesen über die Rekonstruierbarkeit dieses Reiches formulieren.

»Im ›elften‹ Band, von dem ich spreche, finden sich Anspielungen auf folgende und vorangehende Bände. Néstor Ibarra hat in seinem heute bereits klassischen Aufsatz in der N.R.F. (Nouvelle Revue Francaise) in Abrede gestellt, daß diese Nachbarbände existieren; Ezequiel Martínez Estrada und Drieu La Rochelle haben diesen Zweifel – vermutlich siegreich – widerlegt. Tatsache ist, daß die gewissenhaftesten Nachforschungen bis heute fruchtlos geblieben sind. Vergebens haben wir die Bibliotheken der beiden Amerikas und Europas in Unordnung gebracht.« (Tlön, 98)

Einer der Tlön-Forscher macht einen so spektakulären wie typischen Vorschlag: Da sich das Forschungsobjekt »Tlön« anders als in dem einen Enzyklopädie-Band nicht fassen läßt und ein solch schmales Forschungssubstrat unbefriedigend erscheint, sollte man die restliche Wirklichkeit von Tlön ergänzend zum Vorliegenden konstruieren, also in der Phantasie erzeugen und dann als gegebenen Gegenstand betrachten.

»Alfonso Reyes, überdrüssig dieser untergeordneten Detektivarbeit, schlägt vor, wir sollten uns alle zusammentun und die Rekonstruktion der vielen dickleibigen Bände, die fehlen, in Angriff nehmen […]. Er berechnet halb im Ernst, halb im Spaß, daß eine Generation von Tlönisten ausreichen dürfte. Dieser gewagte Voranschlag führt uns auf das Grundproblem zurück: Wer sind die Erfinder von Tlön? Die Mehrzahl ist unerläßlich, weil die Hypothese eines einzigen Erfinders – eines unendlichen, in Schatten und Bescheidenheit wirkenden Leibniz – einhellig verworfen worden ist. Man vermutet, daß diese brave new world das Werk einer Geheimgesellschaft von Astronomen, Biologen, Ingenieuren, Metaphysikern, Dichtern, Chemikern, Algebraikern, Moralisten, Malern und Geometern gewesen ist – unter der Leitung eines im Dunkeln gebliebenen Genies.« (Tlön, 98-99)

Hinter diesem Vorschlag steckt eine Art gekrümmter Logik: Wenn Tlön nur das Produkt von Imaginationen ist, warum sollte man es dann erforschen? Ist es aber mehr als ein imaginäres Land – wie sollte dann die Imagination eine empirische oder doch quellengestützte Recherche ersetzen können? Trotz ihres imaginären Charakters läßt sich die Welt von Tlön jedenfalls offenbar erforschen wie ein »wirklicher« Kosmos. Daß man von ihr nur ausschnitthaft-partielle Informationen hat, spricht nicht dagegen: Alle Wissensgebiete sind un-endlich.

Das Projekt einer Erforschung von Tlön entspricht in seinen Grundzügen der Borgesschen Lexikographik der Imaginären Wesen, der Träume und der Himmel- und Höllenvorstellungen. Auch diese basiert auf einem Wissen, das sich seiner eigenen Partikularität bewußt ist und sich auf imaginäre Gegenstände bezieht.

Übrigens wird die innere Widersprüchlichkeit der Teilbeschreibung (im 11. Band) als Beweis dafür gedeutet, daß es weitere Beschreibungen gibt.

»Anfangs war man der Ansicht, Tlön sei ein bloßes Chaos, eine unverantwortliche Ausgeburt freier Phantasie; heute weiß man, daß es ein Kosmos ist, und die verborgenen Gesetze, die ihn durchwalten, sind, wenn auch nur provisorisch, formuliert worden. Der Hinweis mag genügen, daß die offensichtlichen Widersprüche im elften Band der beweiskräftige Prüfstein dafür sind, daß es die anderen geben muß, so durchaus klar und richtig ist die Ordnung, die man hier festgestellt hat.« (Tlön, 98-99)

Auch solche Widersprüchlichkeiten sind ja für die Borgesschen Lexika der Fabelwesen, der Himmels- und Höllenvorstellungen charakteristisch.