T.
Tlön und seine Enzyklopädien
Ein konstruktivistisches Phantasma

Man kann die Tlön-Erzählung als Parabel auf das eigene (Borgessche) lexikographische Unternehmen deuten; man kann sie aber auch im Sinne des erkenntnistheoretischen Konstruktivismus lesen, die Erfindung von Tlön als eine Parabel über die Erfindung von »Wirklichkeit«: Jede »Welt« ist aus dieser Perspektive ein Produkt ihrer Beschreibungen.

Auf der Basis der verfügbaren Kenntnisse über Tlön vermag der Erzähler dem Leser eine den imaginären Enzyklopädieband paraphrasierende Kurzdarstellung des Reiches selber zu geben. Weitaus interessanter noch als die »Zoologie« und Topographie des erdachten Reiches (erwähnt werden hier »durchsichtige Tiger« und »Bluttürme«) ist die herrschende Weltanschauung. Aus der Sicht der Angehörigen dieses Reichs ist alles Wirkliche imaginär. Diejenigen, die in Tlön diese Weltanschauung propagieren, gehören damit gleich zwei verschiedenen »Wirklichkeiten« an: Die Tlöner haben natürlich recht, wenn sie sich als Phantasieprodukte verstehen – aber woher wissen sie das? Was für den Leser eine Trivialität ist, ist als These der fiktiven Figuren über sich selbst von ganz anderer Sprengkraft. Als radikale erkenntnistheoretische Idealisten interpretieren sie die Welt nicht als »ein Zusammentreffen von Gegenständen im Raum«, sondern als »eine heterogene Reihenfolge unabhängiger Handlungen. Sie ist sukzessiv, zeitlich, nicht räumlich.« (Tlön, 99) Man propagiert eine »Philosophie des Als Ob« (im Original deutsch – eine Anspielung auf den Neukantianer Hans Vaihinger, 1852-1933, dessen Hauptwerk von 1911 den Titel »Philosophie des Als-Ob« trägt), und diese Philosophie ist ausdifferenziert in zahllose unglaubliche Systeme (Tlön, 101). Die Betrachtung der Welt unter dem Aspekt ihres hypothetischen Charakters paßt natürlich bestens zu einer imaginären Welt, die ja so etwas wie eine Hypothese ihrer Erfinder ist: Man tut, ›als ob‹ es diese Welt gäbe.

Die Metaphysiker von Tlön selbst betrachten die Metaphysik als einen Zweig der phantastischen Literatur und haben den Anspruch auf Wahrheit, ja selbst den auf Wahrscheinlichkeit preisgegeben, da ihnen das Erstaunliche wichtiger ist. (»Die Metaphysiker auf Tlön suchen nicht die Wahrheit, ja nicht einmal die Wahrscheinlichkeit: sie suchen das Erstaunen. […] Sie wissen, daß ein System nichts anderes ist als die Unterordnung aller Aspekte des Universums unter irgendeinen von ihnen.«; Tlön, 101f.) Eine bestimmte Schule hält die Geschichte der Welt – und darin unser Leben und die geringfügigste Einzelheit unseres Lebens – für die Schrift einer inferioren Gottheit, welche auf diesem Wege mit einem Dämon kommuniziere.

Aber man hat in Tlön nicht nur die zur eigenen Fiktionalität passende Philosophie; auch die Naturgesetze von Tlön passen zu einer Welt, die der Vorstellung entsprungen ist: Die Welt verhält sich so, wie sie gedacht wird. Und da man sie als Produkt des Denkens betrachtete, paßt sie sich dem Denken an. Vom Idealismus der Tlönianer wird deren Welt kontaminiert: Sie paßt sich den Vorstellungen an, die man sich von ihr macht.

»Der Idealismus von Jahrhunderten und Aberjahrhunderten ist an der Wirklichkeit nicht spurlos vorbeigegangen. So ist in den ältesten Gebieten von Tlön die Verdoppelung verlorener Gegenstände nichts Seltenes. Zwei Personen suchen einen Bleistift; die erste findet ihn und sagt nichts; die zweite findet einen zweiten nicht minder wirklichen Bleistift, der jedoch ihrer Erwartung besser angepaßt ist.« (Tlön, 106)