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Tlön und seine Enzyklopädien
Tlön als Sprach-Phantasma

Die Gesetzlichkeit der Welt ist von den Regeln der Sprache abgeleitet. Damit nivelliert sich die Differenz zwischen dem beschreibbaren Wirklichen und dem beschreibbaren Möglichen; imaginäre Objekte und phantastische Antizipationen und das sogenannte Wirkliche sind in ihrer Verfaßtheit als Gegenstände sprachlicher Darstellung nicht unterscheidbar, da diese Darstellung gleichbedeutend mit ihrer Konstitution als Gegenstand ist; allenfalls vordergründig ist auch der Unterschied zwischen Primär- und Sekundärgegenständen. Spätestens, wenn die Rede auf die Unmöglichkeit einer Differenzierung zwischen Denkbarem, Beschreibbarem, Vorstellbarem einerseits, Wirklichem andererseits kommt, wird der sogenannte »wirkliche« Leser vom Sog des literarischen Gedankenspiels Tlön erfaßt. Was gibt diesem wirklichen Leser die Gewißheit, mehr zu sein als ein »hrön« oder gar ein »ur«? Vielleicht gibt es jemanden in Tlön, der uns gerade träumt. Das imaginäre Reich von Tlön greift allein aufgrund seiner spezifischen Konstruktion auf unsere Welt aus, de-realisiert sie als Folge eines Gedankenexperiments, welches sich zu dem der phantastisch experimentellen Realisierung komplementär verhält.

Die Fußnoten in »Tlön, Uqbar, Orbis tertius« unterlaufen jede hierarchische Ordnung von »primärem« und »sekundärem« Wirklichen. Die erste Fußnote gilt einem Autor namens Silas Haslam, dessen Werke der Erzähler in einem Enzyklopädie-Artikel über Uqbar erwähnt gefunden hat, woraufhin er sie jedoch nicht ausfindig machen kann, obwohl eines immerhin im Katalog einer realen Buchhandlung aufgeführt wird. Unentscheidbar ist, wer als Verfasser dieser Fußnote zu denken ist: der Erzähler – oder ein namenloser Herausgeber? Eine fiktionale oder eine authentische Instanz? In jedem Fall umspielt die Fußnote die Abgrenzung zwischen sogenanntem »Wirklichem« und sogenanntem »Fiktivem«. Anläßlich der Erwähnung einer philosophischen Schule von Tlön, welche die Zeit leugnet (also wie Berkeley ihre Idealität behauptet) und meint, die Vergangenheit habe nur als gegenwärtige Erinnerung Wirklichkeit, erfolgt in einer Fußnote (wiederum rätselhafter Provenienz) ein Hinweis auf Bertrand Russell; die durch die Seitenangabe erzeugte Suggestion von Genauigkeit steht in Kontrast zum Inhalt des Zitats – ebenso wie zur Desorientierung hinsichtlich der Ebene, von der aus gesprochen wird:

»Russell (The Analysis of Mind, 1921, p. 159) setzt voraus, daß der Planet vor wenigen Minuten erschaffen wurde, ausgestattet mit einer Menschheit, die eine illusorische Vergangenheit ›erinnert‹.« (Tlön, 102)

Beiden Fußnoten gemeinsam ist die Beziehung auf das Thema der Unabgrenzbarkeit von Realität und Idealität. Beide verweisen jeweils auf ein Buch, sind also Schwellen zu anderen Büchern (anderen Texten). Ob diese Schwellen zu realen oder imaginären Texten führen, ist unentscheidbar – so wie das Argument von der illusorischen Vergangenheit unwiderlegbar ist. Daß »Russell« aber von uns als Bestandteil unserer realen Welt anerkannt wird, verstärkt den Schwellencharakter der Fußnote. Die dritte Fußnote betrifft wiederum die Frage nach der Wirklichkeit, die aus Tlönischer Sicht scheinhaft auch insofern ist, als es nichts Identisches gibt, das sich klar gegen anderes ausdifferenzierte. Der Glaube an die Identität von Dingen und Wesen ist ebenso illusorisch wie der an ihre Unterscheidbarkeit. (Daß dies am Beispiel der Ununterscheidbarkeit von Schriftsteller und Leser exemplifiziert wird, verstärkt die Sogwirkung des Textes.)

»Heute stellt eine der Kirchen von Tlön die platonische Behauptung auf, daß ein gewisser Schmerz, ein gewisser grünlicher Anflug des Gelben, daß eine gewisse Temperatur, ein gewisser Ton die einzige Wirklichkeit sind. Alle Menschen sind im schwindelerregenden Augenblick des Koitus derselbe Mensch. Alle Menschen, die eine Zeile von Shakespeare memorieren, sind William Shakespeare.« (Tlön, 104)