T.
Tlön und seine Enzyklopädien
Selbstbezüglichkeit der Tlön-Ideologie

Der Gedanke, daß der Gedanke der Wirklichkeit begründend vorausgehe, bewirkt in der fiktiven Wirklichkeit Tlöns also, daß diese tatsächlich dem Gedanken zu folgen beginnt. So gelingt es beispielsweise, verlorene Dinge durch gedankliche Konzentration auf sie ein zweites Mal zu realisieren: Was man denkt, ist mit einemmal da, weil es gedacht wurde. Diese vom Denken erzeugten Doubletten der Ausgangsgegenstände, ein wenig größer als diese selbst (erscheint nicht das Verlorene rückblickend stets als etwas größer?), heißen »hrönir«. Nach ersten Zufallserfolgen produziert man sie absichtvoll und gezielt. Daß die Erzeugung von Gegenständen aus der Phantasie Methode haben kann (und in Tlön hat), belegt ein Beispiel, das von den Verfassern des 11. Enzyklopädie-Bandes auf 100 Jahre vor der beschriebenen Gegenwart zurückdatiert wird (freilich: in einer imaginären Zeitordnung):

»Der Direktor eines der Staatsgefängnisse teilte den Häftlingen mit, im ehemaligen Bett eines Flusses gäbe es gewisse Grabstätten, und versprach denen die Freiheit, die einen bedeutenden Fund herausholen würden. In den Monaten, die der Ausgrabung vorangingen, zeigte man ihnen fotografische Aufnahmen von dem, was sie finden würden. Dieser erste Versuch bewies, daß Hoffnung und Gier sich hemmend auswirken können; eine Woche Arbeit mit Pickel und Spaten förderte kein anderes hrön als ein verrostetes Rad zutage, das sich späteren Datums [!] erwies denn das Experiment. Dieses wurde geheimgehalten und danach in vier Studienanstalten wiederholt. In drei Fällen scheiterte es nahezu völlig; im vierten (der Leiter starb zufällig während der ersten Ausgrabungen) hoben – oder erzeugten – die Schüler eine Goldmaske, ein archaisches Schwert, zwei oder drei Tonkrüge und den grün angelaufenen und verstümmelten Torso eines Königs mit einer Inschrift auf der Brust, die bis heute der Entzifferung harrt. So kam man auf die Abträglichkeit von Zeugen, die den experimentellen Charakter der Suche kennen... Die Massenforschungen bringen widerspruchsvolle Gegenstände hervor; heute bevorzugt man die individuellen und mehr improvisierten Arbeiten. Die methodische Züchtung von ›hrönir‹ (sagt der elfte Band) hat den Archäologen kostbare Dienste geleistet. Sie hat die Befragung, ja die Veränderung der Vergangenheit ermöglicht, die heute nicht weniger bildsam und gefügig ist als die Zukunft.« (Tlön, 106-107)

Wenn die Vergangenheit veränderbar ist, ist die Zeitreihe reversibel, die Zeitordnung selbst imaginär. Gibt es eine kategoriale Scheidung zwischen Realem und Imaginärem ebensowenig wie eine zwischen »Früherem« und »Späterem«, dann kann die imaginative Realisierung von Gegenständen auch nicht von einer »früheren« Realität dieser Gegenstände abhängig sein. Entsprechend kann es in Tlön nicht bei der Erzeugung von erinnerten (bzw. genauer: als »erinnert« interpretierten) Dingen bleiben. Während die »hrönir« die gedanklich-imaginativ erzeugten Doubletten von Primärgegenständen sind, die zumindest in der gedachten Vergangenheit einmal existiert haben, kennt man auch eine zweite Klasse solch erdachter Dinge, die allein aus der Einbildungskraft entstehen und nur auf Suggestionen und Hoffnungen beruhen: Solche Dinge nennt man »Ur«, und dieser Name, auch im Originaltext enthalten, paßt gut zu einem nicht abgeleiteten Gegenstand. (Nachträglich lassen sich von den spirituell erzeugten Gegenständen immer wieder neue imaginativ erzeugte Kopien ableiten. Diese zeigen dann vielleicht Abweichungen von ihren Vorformen; ihre Gestalt mag reiner sein, aber irgendwann zerfallen sie auch.) Hrönir werden zuerst zufällig erzeugt und dann planvoll produziert. Eine andere Gattung imaginativ erzeugter Objekte ist nicht einmal mehr von realen Urbildern abhängig: »[…] reiner als das hrön ist manchmal das ur: das durch Suggestion erzeugte Ding, der von Hoffnung herangebildete Gegenstand.« Die Macht der Phantasie hat ihre Schattenseite: Abhängig von ihrer Erzeugung durch eine spirituelle Anstrengung, lösen die Objekte in Tlön sich leicht auf, wenn sie keiner Aufmerksamkeit gewürdigt werden. Darum ist die Wirklichkeit von Tlön instabil, fragil, verschwimmend.

»Auf Tlön verdoppeln sich die Dinge; sie neigen ebenfalls dazu, undeutlich zu werden und die Einzelheiten einzubüßen, wenn die Leute sie vergessen. Ein klassisches Beispiel ist jene Türschwelle, die andauerte, solange ein Bettler sie besuchte, und die bei seinem Tode den Blicken entschwand. Zuweilen haben ein paar Vögel oder ein Pferd die Ruinen eines Amphitheaters gerettet.« (Tlön, 107)