Tlön bleibt also nicht »eingerahmt« durch seine Präsentation als Imaginationsprodukt; der Rahmen wird zur Schwelle – zu einer Schwelle, die (wie die Objekte in Tlön) zur Auflösung tendiert und schließlich verschwindet, sobald man sie keiner Aufmerksamkeit mehr würdigt. Waren in Tlön Dinge dadurch entstanden, daß man an eine solche Realisierbarkeit durch das Denken glaubte, so wiederholt sich, wie der Leser erfährt, dieser Vorgang auf der nächsthöheren »Wirklichkeitsebene«, der Wirklichkeit des Erzählers. Von innen heraus verändert sich die Welt, in der der Erzähler lebt – und immerhin: er erwähnt Dinge und Personen, die es »wirklich« gibt und verortet seinen Text damit wie auch durch dessen Datierung in unserer Geschichte. Jene erdachte Welt namens Tlön nimmt in der Welt, die sie erdachte, konkrete Gestalt an: Gegenstände tauchen auf, die aus Tlön stammen müssen.
Die Wirklichkeit gibt der Phantasie nach. Und so tauchen – erdacht, erhofft, er-phantasiert – schließlich auch die von den Forschern ersehnten fehlenden Bände der Enzyklopädie von Tlön auf, in der das Phantasiereich beschrieben wird. Tlön generiert sich selbst – gemäß dem paradoxen Modell »A bewirkt B, und B bewirkt A«: In einem zirkulären Prozeß produziert eine weltschöpferische Imagination eine Welt, in welcher die Imagination »Wirkliches« hervorbringen kann. (Wie der Erzähler suggeriert, ist Tlön einfach zu schön, um nicht wahr zu sein: zu nahe an dem, was Inbegriff menschlicher Allmachtsphantasien ist.)
Beim Auftauchen einzelner Objekte aus Tlön hat es nicht sein Bewenden; vielmehr phantasieren die Angehörigen der Borges-Welt (also doch offenbar unserer Welt?) die einst für Tlön erdachten Gesetze in die eigene hinein und überschreiben damit die bislang gültigen Naturgesetze. Was einerseits wie ein völlig unglaubwürdiger Einfall an der Grenze zur Un-Denkbarkeit klingt, ist andererseits nur die Radikalisierung der für die neuzeitlich-abendländische Denkweise charakteristischen Gleichsetzung von Erkennbarem und Machbarem.
Tlön ist nicht nur das mehr oder weniger kontingente Gedankenspiel einer Handvoll Gelehrter, sondern es ist der Konzeption nach das idealtypische Produkt neuzeitlich-wissenschaftlicher Wirklichkeitsentwürfe. Im Zeichen des Gedankens, daß Erkennen gleichbedeutend ist mit (Re-)Konstruieren, wird die selbst-erdachte und damit selbst-gemachte Welt zum idealen Erkenntnisobjekt. Das Theorem von der Welt als einem Produkt des Gedankens ist erfolgreich, weil es den Menschen zum Schöpfer der Welt macht. Und es macht den Menschen zum Weltschöpfer, weil es sich durchsetzt. Die Folgen werden in allen möglichen Disziplinen und Teilbereichen menschlicher Praxis sichtbar.
Vor allem die stetige Ausbreitung der Sprache von Tlön bewirkt die Verwandlung der Wirklichkeit gemäß dem imaginären Bauplan dieser anderen Welt. Da Sprache und Zeichen der Welt eine Ordnung geben, die Beschreibung also jeweils ihre Gegenstände hervorbringt, sind Strukturen und Gesetze dessen, was als »wirklich« gilt, davon abhängig, wie – gemäß welchen Sprach-Regeln – sie beschrieben werden.