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Tlön und seine Enzyklopädien
Ein Projekt von Enzyklopädisten

Der Forschungsbericht des Erzählers enthüllt Weiteres: Tlön erweist sich als ein kollektives Phantasieprodukt. Hinter diesem Entwurf einer integralen Welt steckt eine auf das 17. Jahrhundert zurückgehende Geheimgesellschaft, zu deren Mitgliedern der Idealist George Berkeley gehört haben soll, der zwischen Sein und Wahrgenommenwerden ein provozierendes Gleichheitszeichen setzte (»esse est percipi«) und selbst die Zeit nicht als an sich gegebene Realität gelten lassen wollte. Wiederum wird durch solche Mitteilungen ein Spiel mit der Grenze zwischen Imaginärem und Realem betrieben. Einerseits ist ja der Bericht über die Erfindung von Tlön als explizites Einbekenntnis der Fiktionalität einer Fiktion dazu angetan, das Vertrauen des Lesers einzuwerben – das Vertrauen in die Unterscheidbarkeit von Realität und Fiktion sowie in das unausgesprochene Einverständnis zwischen Text und Leser, diese Unterscheidung zu akzeptieren. Andererseits wird dieses Vertrauen im selben Moment mißbraucht, indem Berkeley zu den Gründervätern von Tlön gerechnet und damit eine »historische« Gestalt in eine fiktive Geschichte versetzt wird. Berkeley wird funktionalisiert: als Baustein der Schwelle zwischen »Innen« und »Außen«.

Die Gestaltung der Wirklichkeit durch die Imagination setzt sich schließlich auf der Wirklichkeitsebene fort, welcher der Erzähler selbst angehört. Unerklärliche Objekte aus unbekannter und mit den bekannten Naturgesetzen unvereinbarer Materie tauchen in verschiedenen Ländern auf – offenbar als Folge von Spekulationen und Antizipationen. Unter anderem findet man die erhofften restlichen Bände der Enzyklopädie über Tlön. Wie der Erzähler betont, paßt sich die Wirklichkeit deshalb den Vorstellungen über ihre Beschaffenheit an, weil diese so plausibel erscheinen. Die Transformation der Welt durch die Gesetze von Tlön folgt dem erkenntnistheoretischen Grundsatz von der Kongruenz des Erkennbaren mit dem Machbaren, im kantischen Idealismus formuliert in Gestalt der These, daß dem erkennenden Subjekt eben das erkennbar sei, was es selbst gemäß den Strukturen seines Erkenntnisvermögens hervorgebracht habe.

»Bisher nahm man an, alle unsere Erkenntnis müsse sich nach den Gegenständen richten; aber alle Versuche über sie a priori etwas durch Begriffe auszumachen, wodurch unsere Erkenntnis erweitert würde, gingen unter dieser Voraussetzung zu nichte. Man versuche es daher einmal, ob wir nicht in den Aufgaben der Metaphysik damit besser fortkommen, daß wir annehmen, die Gegenstände müssen sich nach unserer Erkenntnis richten, welches so schon besser mit der verlangten Möglichkeit einer Erkenntnis derselben a priori zusammenstimmt […]. Wenn die Anschauung sich nach der Beschaffenheit der Gegenstände richten müßte, so sehe ich nicht ein, wie man a priori von ihr etwas wissen könne; richtet sich aber der Gegenstand (als Objekt der Sinne) nach der Beschaffenheit unseres Anschauungsvermögens, so kann ich mir diese Möglichkeit ganz wohl vorstellen. […] ich nehme an, die Gegenstände, oder, welche einerlei ist, die Erfahrung, in welcher sie allein (als gegebene Gegenstände) erkannt werden, richte sich nach diesen Begriffen [= den Begriffen, durch welche die Gegenstände bestimmt werden].« (Kant: Kritik der reinen Vernunft, B XVI – B XVII. )

Kants These, daß die Vernunft das und nur nur das einsehe, »was sie selbst nach ihrem Entwurfe hervorbringt« (Kant: Kritik der reinen Vernunft, B XIII.) findet bei Borges ihre freilich schwindelerregend verzerrte Reprise. »Tlön mag ein Labyrinth sein, doch ist es ein von Menschen entworfenes Labyrinth, ein Labyrinth, dessen Sinn es ist, von Menschen enträtselt zu werden.« (Tlön, 112). Die gedanklichen Konstruktionen von Welt durch die Wissenschaft vollziehen sich dabei nicht in einem abgeschlossenen intellektuellen Spielraum, sondern beeinflussen, ja gestalten die alltägliche Lebenswelt. Tlön, zunächst ein imaginäres Objekt der Beschreibung, wird zur praktischen Realität. Wichtigstes Resultat der fortschreitenden Tlönisierung und zugleich deren Besiegelung ist die sukzessive Verdrängung aller geläufigen Sprachen durch das Tlönsche Idiom. Die Welt wird »Tlön« in dem Grade, in dem sie die Sprache Tlöns spricht und sich in dieser selbst beschreibt.

»Die Berührung und der Umgang mit Tlön haben diese unsere Welt aufgelöst. […] Schon ist das (erschlossene) ›Uridiom‹ von Tlön in die Schulen eingedrungen; schon hat seine harmonische Geschichte (die so voll ist von bewegenden Episoden) die in meiner Jugend herrschende ausgelöscht; schon nimmt in den Memoiren eine fiktive Vergangenheit die Stelle einer anderen ein, von der wir nichts mit Sicherheit wissen – nicht einmal, daß sie falsch ist. Man hat die Numismatik, die Arzneikunde, die Archäologie reformiert. Ich halte für ausgemacht, daß die Biologie und die Mathematik ebenfalls ihrer erneuerten Gestalt harren […].« (Tlön, 112)