X.
Das unbekannte Ich als Gegenstand biographischer und autobiographischer Enzyklopädien und Lexika
Vor-Schriften und Protokolle

Mit der Vorstellung vom ›nachträglich‹ geführten Protokoll über die menschlichen Taten zwar vergleichbar, der Konzeption nach aber in einem wesentlichen Punkt anders angelegt, ist die Idee eines Textes oder Lebensbuchs, in dem diese Taten oder andere den Menschen betref­fende Daten im ›voraus‹ fixiert stehen. Denn dieser Idee zufolge ist ja determiniert, wie sich die Lebensläufe der Menschen gestalten werden. In der Apo­kalypse wird auf eine Namensliste der Auserwählten des Herrn angespielt – eine mit dem Buch der vorab verfaßten Lebensdaten verwandte Vorstellung. (Die neutestamentarische Vorstellung einer Namensliste der Auserwählten setze sich, so Kohlenberger, »gegenüber dem dem biblisch-jüdischen Bereich entstammenden ›Schicksalsbuch‹ und dem der jüdi­schen Apokryphen bekannten ›Buch der Werke‹ durch, d. h. sie ver­selbständigt sich gegenüber dem apo­kalyptischen Bereich.« (Historisches Wörterbuch der Philosophie, Bd. 1, Sp. 956; Beispiele zur einschlä­gigen Metapherngeschichte finden sich auch bei Blumenberg 1981, 23ff.)

In jedem Fall stellen sich zumindest die großen Buch- und Schriftreligionen die Macht des Himmels gern als die Macht einer gigantischen Buchführung vor (eine Grundidee, die sich in modifizierter Form noch bei Kafka gestaltet findet: in den Kanzleien des »Schloß«-Romans und den Gerichtskanzleien, die im »Prozeß« geschildert werden). Im Himmel, so eine leitende Vorstellung, werden Listen geführt, auf denen alle Menschen verzeichnet sind – und die gegebenenfalls über die aufgelisteten Sterblichen auch noch weitere Auskünfte geben. Dem jüdischen Kulturkreis geläufig ist das »Schicksalsbuch«; von einem »Buch des Gedächtnisses« spricht der christliche Theologe Johannes von Salisbury. Römische Autoren sprechen von einer Senatsliste des Himmels. Alle Varianten einschlägiger Buchführungsvisionen verbin­det die Überzeu­gung, das menschliche Leben werde von jenseitigem Standort aus be­obachtet, beschrie­ben, bewertet und ge­gebenenfalls gelenkt. Die jeweils buchführende Instanz ist Gott selbst oder je­mand, der von diesem autorisiert wurde.