X.
Das unbekannte Ich als Gegenstand biographischer und autobiographischer Enzyklopädien und Lexika
Eine Privatenzyklopädie:
Alberto Savinio: Nuova Enciclopedia

Savinio (geb. 1891, gest. 1952 = Andrea de Chirico) ist der Bruder des Malers Giorgio de Chicico. Er hat selbst auch gemalt, als Autor mit lyrischen und dramatischen Formen experimentiert, stand der surrealistischen Kunst nahe, ohne Surrealist zu sein, und unterhielt darüber hinaus enge Beziehungen zu anderen Repräsentanten avantgardistischer Kunstströmungen. (Die dt. Ausgabe der »Nuova Enciclopedia« von 2005 ist umfangreicher als die von 1983. Sie enthält, anders als die von 1983, als ersten Artikel einen über den Buchstaben »A«.)

Das Motto Savinios, einleitend, erklärt die Funktion der neuen Enzyklopädie:

»Ich bin so unzufrieden mit den Enzyklopädien, daß ich mir diese hier für meinen persönlichen Gebrauch geschrieben habe. Arthur Schopenhauer war so unzufrieden mit den Philosophiegeschichten, daß er sich eine eigene für seinen persönlichen Gebrauch zusammenschrieb.« (Savinio 2005, unpag.)

Die Stichwortliste stellt sich als veritables Sammelsurium dar. Wir finden Artikel über: A, Abat-jour/Lampenschirm, Abatino (Graf Pepito), Abendland, Absätze, Abschied Opus 81, Achilles und Aperitiv, Adam, Agonie, Aischylos →Tragödie, Akademie, Akzentverschiebung, Allwissenheit, Amazone, Ambrosius, Amöbe, Amphoren und Kelche, Anaxagoras, Angelus, Apollinaire, Apollo, Apuleius→Metamorphosen, Ärztlicher Rat etc. etc. (In der nichtitalienischen Ausgabe ist die Reihenfolge der Artikel natürlich eine andere als im Original, aber einen Eindruck vermittelt diese Zusammenstellung von A-Artikeln doch.) Unter den Zeichnungen zu diesen Artikeln findet sich u.a. die eines Stiermenschen (eines bürgerlich gekleideten Minotaurus), der als »Il signor A« vorgestellt wird; ihm korrespondiert eine Bemerkung im Artikel über das »A«, dessen schriftgeschichtlich frühe Form mit der eines Stiergehörns in Verbindung gebracht wird. Im übrigen wurde das Lexikon aus zunächst einzeln erschienen Artikeln nachträglich kompiliert, hatte zunächst also keine Buchform.

Aus dem Nachwort von Richard Schroetter zur deutschen Ausgabe von 2005:

»Savinios Textwelt ist immer auch autobiographisch und voller Anspielungen. Was andere Schriftsteller gewöhnlich in Form von Lebensbeschreibungen, Tagebüchern oder Briefen hinterlassen, verwebt er systematisch in seine Texte. Das gilt für sein ›Privates Lexikon‹ besonders, das zu großen Teilen während des Zweiten Weltkriegs entstanden ist. [...] Um die historische Zeitebene klar hervortreten zu lassen, versieht Savinio seine Aufzeichnungen gerne mit Datierungen, die nicht immer stimmen müssen. ›1907 kam ich zum ersten Mal nach Rom‹, ›1908 beschloß ich dem Flügel Lebewohl zu sagen‹ [...]; ›im Oktober 1943, als ich mich vor den Faschisten verstecken musste‹.
Die scheinbar objektiven Fakten dieser Welt, das weiß Savinio sehr gut, sind die Munition für Mythen und Legenden. So wird aus Geschichte Fiktion und umgekehrt. […] An den Buchstaben hängen nicht nur Ideen und Begriffe, sondern ebenso eine Vielfalt von Tönen, Farben und Gerüchen, ein ganzes Universum eben – an allen nagt der Zahn der Zeit [...].« (Savinio 2005, 462f.)

Bei der Abfassung seines Lexikons hat Savinio Wörterbücher und Nachschlagewerke aller Art verwendet, darunter vor allem Petrocchis »Nuovo Dizionario della Lingua Italiana«, die »Enciclopedia Italiana« und Jaconos »Dizionario di Esotismi«. Besondere Neigungen bringe Savinio, so Schroetter, der Etymologie entgegen.

»Savinio muß bei seinem Vorhaben anfangs sehr optimistisch gewesen sein. Allein die Artikel für die Buchstaben A und B verteilten sich auf 16 Nummern der Zeitschrift. Sie erstreckten sich auf einen Zeitraum von mehr als eineinviertel Jahren. Hätte er in dieser Ausführlichkeit (und mit dem besonderen typographischen Aufwand) weitergemacht, wäre er mit seinem Projekt zirka zwanzig Jahre später fertig geworden. [...] In den späteren DOMUS-Nummern hält er sich nicht mehr an die alte alphabetische Reihenfolge, er geht jetzt vergleichsweise assoziativ vor, springt beliebig von einem Buchstaben zum anderen, um diejenigen Artikel, die ihm besonders am Herzen liegen, unterbringen zu können.« (Savinio 2007, 465)

Aus politischen Gründen wird die Publikation der neuen Enzyklopädie zeitweilig unterbrochen. Savinios Freund Massimo Bontempelli verläßt im Dezember 1942 die Zeitschrift, neue, politisch konforme Herausgeber übernehmen seine Funktionen, die Rubrik Savinios erscheint zunächst nicht weiter; »Educazione« ist das letzte erscheinende Lemma. Savino befaßt sich weiter mit dem Thema Enzyklopädie. 1944 erscheint in »La Stampa« ein Artikel zu diesem Thema, wo es u.a. heißt:

»Heute ist eine Enzyklopädie nicht möglich. Heute ist es nicht möglich, alles zu wissen. Eine abgeschlossene, eine umfassende Wissenschaft ist heute nicht möglich. Heute gibt es keine Homogenität der Kenntnisse, keine geistige Verwandtschaft zwischen Kenntnissen. Heute gibt es keine gemeinsame Tendenz der Erkenntnisse. Heute besteht ein gewaltiges Ungleichgewicht zwischen den Erkenntnissen. Das ist der Grund jener ›Kulturkrise‹, die zuerst von Spengler, dann von Huizinga verkündet wurde... Und da [...] keine Hoffnung besteht, daß einander so fernliegende Ideen sich vereinen und verschmelzen können, ist es angebracht, sich mit einer fortgesetzten und immer ernsteren Kulturkrise abzufinden.« (Savinio 2007, nach Schroetters Nachwort 465f.)

Savinio plante selbst die Veröffentlichung seiner »Enciclopedia« als Buch und sammelte weiteres Material dazu, ohne das Projekt vollenden zu können; 25 Jahre nach seinem Tod veröffentlichte der Adelphi-Verlag seine Kollektion von Artikeln als »Nuova Enciclopedia«. Die erste, 1983 dann auch auf Deutsch erschienene Zusammenstellung wurde durch mittlerweile neu aufgefundene Artikel in späteren Ausgaben ergänzt.