X.
Das unbekannte Ich als Gegenstand biographischer und autobiographischer Enzyklopädien und Lexika
Lebens-Bilanzen

Das Lebens-Buch ist eine Summe des Lebens selbst – und alles Wissen, alle Weisheit, die man während des Lebens erwirbt, können hier zusammen mit den äußeren biographischen Daten mitgeteilt werden. Bei Louis-Séba­stien Mercier taucht diese Vorstellung explizit auf. Der Ich-Erzähler in Merciers Roman »Das Jahr 2440« (»L’an 2440«, zuerst 1770 oder 1771) wird träumend in die Zukunft versetzt. Dort erlebt er eine gegenüber der Gegenwart optimierte Welt. Hier ist jedermann Autor; jeder schreibt über sich selbst, über die eigenen Lebenserfahrungen und Erkenntnisse. So gibt es zu jedem Menschen ein Buch, und dieses gilt als identisch mit seiner Person. Es wird nach seinem Tode veröffentlicht, in ihm lebt der Mensch fort.

»Jedermann schreibt auf, was er in seinen besten Augen­blicken denkt, und in einem be­stimmten Alter sammelt er die lauter­sten Gedanken, die er in seinem Leben gedacht hat. Ehe er stirbt, macht er, nach seiner Art zu sehen und sich auszudrücken, daraus ein mehr oder weniger starkes Buch: Dieses Buch ist die Seele des Verstorbenen.« (Mercier 1982, 41)

Wie eng sich die Ideen von Lebenslauf und Lebensbeschreibung in unserer Schriftkultur miteinan­der verflochten haben, zeigt übrigens der umgangssprachliche Gebrauch des Wortes »Biographie«, mit dem ja nicht nur der eigentliche Text, sondern auch das gelebte Le­ben selbst bezeichnet wird.