X.
Das unbekannte Ich als Gegenstand biographischer und autobiographischer Enzyklopädien und Lexika
Roland Barthes
»Un dictionnaire est un objet parfaitement paradoxal, vertigineux, à la fois structuré et indéfini, ce qui en fait un très grand exemple, car il est une structure infinie décentrée puisque l’ordre alphabétique dans lequel il est présenté n’implique aucun centre.« (Barthes 1981, 96)
»Das Alphabet ist euphorisch: zu Ende ist die Angst vor der ›Anordnung‹, die Emphase der ›Ausführung‹, die verdrehten Logiken, zu Ende ist es mit den Abhandlungen! Eine Idee pro Fragment, ein Fragment pro Idee, und die Abfolge dieser Atome nichts als die tausendjährige, irrsinnige Ordnung der französischen Lettern.« (Barthes 1978, 160f.)

Roland Barthes hat in den 1970er Jahren drei Texte verfasst, denen – wenngleich teilweise verdeckt – die Form eines alphabetischen Lexikons (oder ›Wörterbuchs‹/›Dictionnaire‹) zugrunde liegt: (1) Le plaisir du texte, 1973 (dt. Die Lust am Text, 1974) - (2) ROLAND BARTHES par roland barthes, 1975  (dt. Über mich selbst, 1978) - (3) Fragments d’un discours amoureux, 1977 (dt. Fragmente einer Sprache der Liebe, 1984).

Für alle drei Werke ist neben ihrer Gliederung in einzelne Artikel die Thematik verbindend: Es geht um Sprache, Sprechen, Schreiben, die Wörter, den Diskurs – und um die Beziehung des Sprachbenutzers zur Welt der Wörter, zur Welt der Texte, zu den Regeln des Diskurses – und damit um ›Persönliches‹. Lektüren und Lebenserfahrungen des Schriftstellers Barthes fließen in die Artikel ein; konventionell-autobiographisches Schreiben findet nicht statt.

Zur Form des in alphabetisch geordnete Artikel gegliederten Lexikons aus Barthes’ Perspektive lässt sich festhalten:

  1. Die Artikel eines solchen Lexikons sind unzusammenhängend, fragmentarisch. Zusammenhang stiftet nur (arbiträr) die alphabetische Folge – aber manchmal erst durch den alphabetischen Index.
    »Das Fragment ist nicht nur von den nebenstehenden abgeschnitten, innerhalb jedes Fragments herrscht auch noch die Parataxe. Deutlich kommt das zum Vorschein, wenn der Index dieser kleinen Stücke aufgestellt wird; für jedes von ihnen ist die Zusammenstellung der Bezüge heteroklit […]. Der Index eines Textes ist also nicht nur ein Werkzeug für Hinweise; er ist selber ein Text, ein zweiter Text.« (Barthes 1978, 102)
  2. Barthes möchte mit der lexikographischen Schreibweise als mit einem neuen Textmodell experimentieren.
    »[…] le modèle […] de la description n’est plus le discours oratoire […], mais une sorte d’artefact lexicographique.« (Barthes 1973, 45)« »[...] das (unerreichte) Modell der Beschreibung ist nicht mehr der rhetorische Diskurs (es wird gar nichts ›ausgemalt‹), sondern eine Art lexikographischer Artefakt.« (Barthes 1974, 42)
  3. Die Form der aneinander gereihten Artikel – die aber kein geschlossenes System bilden – korrespondiert aus seiner Sicht besonders gut der Form der »Diskurse«, in die der Einzelne sprechend und schreibend eingebunden ist.
  4. In Einzelartikeln zu schreiben bedeutet, der falschen Suggestion von Zusammenhang und Systematik zu entkommen.