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Das unbekannte Ich als Gegenstand biographischer und autobiographischer Enzyklopädien und Lexika
Und wie? (Post-)Moderne Zweifel am Projekt Autobiographie

Die kritische Reflexion über das Projekt Autobiographie kann als charakteristisch für die literarische Moderne und Post-Moderne gelten. Theodor W. Adorno hat in einem Essay über den »Standort des Erzählers im zeitgenössischen Roman« die Möglichkeit traditionellen Erzählens für die Moderne radikal in Zweifel gezogen. Sein Argument: es gehe nicht an, als Erzähler mit der Suggestion anzutreten, man habe noch etwas Besonderes und darum Mitteilenswertes zu sagen. Andere Autoren – darunter Robert Musil – betonen, die moderne Welt sei unerzählbar geworden. Ingeborg Bachmann charakterisiert das autobiographische Ich als ein fingiertes ich, einen Rollenspieler, das nicht mehr durch einen dahinterstehenden ›authentischen‹ und als authentisch darstellbaren Charakter ›gedeckt‹ sei.

Max Frisch hat in seinen Romanen »Stiller« und »Mein Name sei Gantenbein« die Form der Autobiographie sowie die an diese herangetragenen Erwartungen einer Dekonstruktion auf inhaltlicher wie auf narrativ-struktureller Ebene dekonstruiert und in »Biografie: ein Spiel« die Idee alternativer Lebensläufe und Identitäten dramaturgisch gestaltet. Er bezeichnet die Geschichten, die ein Ich über sich erzählt, als Erfindungen – und damit das Ich selbst, das sich in ihnen darzustellen sucht. Dabei liegt ein starker Akzent auf der von solchen vermeintlich authentischen und offenbarenden Geschichten ausgehenden Verführung zur Selbsttäuschung. Frischs Reflexionen über die Fiktionalität des Ichs, das in seinen Geschichten Gestalt annimmt, können als repräsentativ für eine Vielzahl vergleichbarer literarisch-poetologischer Auseinandersetzungen mit dem Themenkomplex um Ich-Darstellung und Autobiographie gelten. Sie changieren auf ebenfalls repräsentative Weise zwischen dem Gestus der Entlarvung und einer konstruktivistischen Affirmation der künstlich geschaffenen narrativ fundierten »Identitäten«.

»Alle Geschichten sind erfunden, Spiele der Ein­bildung, Entwürfe der Erfah­rung, Bilder, wahr nur als Bilder. Jeder Mensch, nicht nur der Dichter, er­findet seine Ge­schichten – nur daß er sie, im Gegensatz zum Dichter, für sein Leben hält – anders be­kommen wir unsere Erlebnismuster, unsere Ich-Erfahrung, nicht zu Gesicht. [...] Geschichten sind Entwürfe in die Vergangenheit zu­rück, Spiele der Einbildung, die wir als Wirklichkeit ausgeben.« (Frisch 1976, 262f.)
»Jeder Mensch erfindet sich eine Geschichte, die er dann, oft unter ge­waltigen Opfern, für sein Leben hält, oder eine Reihe von Geschichten, die sich mit Ortsnamen und Daten durchaus belegen lassen, so daß an ihrer Wirklichkeit nicht zu zwei­feln ist. Nur der Schriftsteller glaubt nicht daran. [...] Indem ich weiß, daß jede Geschichte, wie sehr sie sich auch belegen läßt mit Fak­ten, meine Erfindung ist, bin ich Schriftsteller.« (Frisch 1976, 263)

Paul De Man schlägt in seinem Aufsatz mit dem suggestiven Titel »Autobiography as De-facement« vor, nicht die Autobiographie als das vom Leben Hervorgebrachte, sondern umgekehrt das Leben als Produkt des autobiographischen Projekts zu verstehen. (de Man 1979, 920)