X.
Das unbekannte Ich als Gegenstand biographischer und autobiographischer Enzyklopädien und Lexika
(3) Roland Barthes: Fragments d’un discours amoureux (1977)

In diesem Buch geht es um ›Diskurse‹, um Sprechweisen. Der einzelne Sprecher bedient sich solcher Schreibweisen – auch und gerade wenn es um Persönliches geht. Die ›Sprache der Liebe‹ ist ein Reservoir von Formeln, Ausdrucksmöglichkeiten, Textmustern, Deutungsmustern für persönliche Erfahrungen, auf die man zurückgreift, um über sich als Liebenden zu sprechen. Die ›Sprache der Liebe‹ (der Liebes-Diskurs) wird aus verschiedenen Quellen gespeist, darunter aus literarischen. (Man empfindet immer auch so, wie es in Büchern steht.) – Diese Ausdrucksmöglichkeiten bilden kein System. Die ihnen angemessenste Form der Darstellung ist daher die in Einzelartikeln – die lexikographische.

Auch dieses Buch ist in gewissem Sinn ein ›(auto-)biographisches‹. Denn sein Thema sind die Diskurse, aus denen sich das Leben des Einzelnen zu weiten Teilen zusammensetzt, die dem zugrunde liegen, was man beispielsweise eben als sein Liebesleben betrachtet.

Auf einen einleitenden Teil unter dem Titel »Wie dieses Buch aufgebaut ist« folgen Einzelartikel. Diese sind jeweils unter ein Lemma gestellt und tragen zusätzlich einen auf dieses Lemma abgestimmten Titel (manchmal in Form eines literarischen Zitats). In der deutschen Ausgabe sind dies die Lemma (1) und Titel (2):
(1) Abhängigkeit / (2) Domnei – Abwesenheit / Der Abwesende – Allein / »Kein Geistlicher hat ihn begleitet« – Anbetungswürdig / »Anbetungswürdig!« – Angst / Agony – Askese / Asketisch sein – Atopos / Atopos – Auswege / Lösungsideen – Begegnung / »Wie war der Himmel blau« – Beiläufigkeiten / Ereignisse, Missgeschicke, Ungelegenheiten – Bejahung / Der Unheilbare – Berührungen / »Wenn mein Finger unversehens…« – Betretenheit / Die Verlegenheit – Bild / Die Bilder – Brief / Der Liebesbrief – Dämonen / »Wir sind unsere eigenen Teufel« – Drama / Roman/Drama – Eifersucht / Die Eifersucht – Etc. etc.

Die »Vorbemerkung des Übersetzers« enthält Erläuterungen zu Terminologischem und zu der übersetzerischen Entscheidung, um der alphabetischen Ordnung willen die Reihenfolge der Artikel im Deutschen gegenüber dem französischen Original umzustellen.

»Roland Barthes hat zwischen Sprache (langue) und Sprechen (parole) immer einen deutlichen terminologischen Unterschied gemacht: Sprache war für ihn ›Institution und System‹, Sprechen ein ›individueller Akt der Selektion und Individualisierung‹ und Diskurs (discours) eine Art ›erweitertes Sprechen‹, das aus den ›Kombinationen‹ besteht, ›durch welche die sprechenden Personen den Code der Sprache in der Absicht, ihr persönliches Denken auszudrücken, zur Anwendung bringt‹. Da die ›Figuren‹ des vorliegenden Bandes aber kleine ›Sprachszenen‹ sind, Elemente eines ›Thesaurus‹, ist im Haupttitel am System-Begriff ›Sprache‹ festgehalten worden, während im Text selbst zwischen Diskurs und Sprache immer unterschieden wurde.
Barthes hat in seinen späten Arbeiten – schon in ›Die Lust am Text‹ (1974), vor allem aber in ›Über mich selbst‹ (1978) – das Alphabet als Gliederungsprinzip benutzt; so auch im vorliegenden Band. Weil der Autor hier aber sogar direkt auf eine ›absolut bedeutungslose Gliederung‹ hingearbeitet hat, schien es sinnvoll, die Fragmente in der Reihenfolge des deutschen Alphabets zu präsentieren. Der einzige Zufall, den diese Umstellung mit sich gebracht hat: was in der französischen Ausgabe den Anfang bildet – ›S’abîmer‹, rückt hier an den Schluß – ›zugrundegehen‹ […].« (Barthes 1984, 11)

Aus der Vorbemerkung Barthes’ zu seinem Buch:

»Die Notwendigkeit des vorliegenden Bandes hängt mit der folgenden Überlegung zusammen: daß der Diskurs der Liebe heute von extremer Einsamkeit ist. Dieser Diskurs wird wahrscheinlich (wer weiß) von Tausenden von Subjekten geführt, aber von niemandem verteidigt; er wird von den angrenzenden Sprachen vollständig im Stich gelassen: entweder ignoriert oder entwertet oder gar verspottet, abgeschnitten nicht nur von der Macht, sondern auch von ihren Mechanismen (Techniken, Wissenschaften, Künsten). Denn ein Diskurs, durch seine eigene Kraft, derart in die Abdrift des Unzeitgemäßen gerät und über jede Herdengeselligkeit hinausgetrieben wird, bleibt ihm nichts anderes mehr, als der wenn auch winzige Raum einer Bejahung zu sein. Diese Bejahung ist im Grunde das Thema des vorliegenden Buches.« (Barthes 1984, 13)

Unter dem Titel »Wie dieses Buch aufgebaut ist« erläutert Barthes sein Konzept der hier versammelten »Figuren« (gemeint sind sprachliche Figuren) und des durch sie konstituierten »Codes«.

»Eine Figur ist dann zustande gekommen, wenn wenigstens einer sagen kann: ›Wie wahr das ist! Diese Sprachszene kenne ich doch.‹« (Barthes 1984, 16)
»[…] der, der diesen Diskurs führt […], weiß lediglich, dass, was ihm in einem bestimmten Augenblick durch den Kopf schießt, geprägt ist wie die Matrix eines Codes […] gehandelt. Diesen Code kann jeder nach Maßgabe seiner eigenen Geschichte ausfüllen […].« (Barthes 1984, 17)
»Was in der Kopfleiste jeder Figur steht, ist nicht ihre Definition, sondern ihr Argument. Argumentum: ›Darstellung, Bericht, Zusammenfassung, kleines Drama, erfundene Geschichte‹; ich füge hinzu: Instrument der Distanzierung, Schrift- oder Bildtafel im Sinne Brechts. Dieses Argument bezieht sich nicht auf das, was das liebende Subjekt ist (das als Person außerhalb dieses Themas liegt […], sondern auf das, was es sagt. Wenn es eine Figur mit dem Namen ›Angst‹ gibt, so deshalb, weil das Subjekt manchmal (ohne sich um die klinische Bedeutung des Wortes zu scheren) aufschreit: ›Ich habe Angst!‹ – ›Angoscia!‹, singt die Callas an einer Stelle. Die Figur ist gewissermaßen eine Opernarie […].« (Barthes 1984, 17f.)

Zum Stichwort »Ordnung« heißt es:

»In der ganzen ›Spanne‹ des Liebeslebens tauchen die Figuren im Kopf des liebenden Subjekts ohne jede Ordnung auf, denn sie hängen jeweils vom (inneren oder äußeren) Zufall ab. Bei jedem dieser Zwischenfälle (das, was ihn über-, was ihm ein›fällt‹) schöpft der Liebende aus dem Vorrat […] der Figuren, je nach den Bedürfnissen, den Weisungen oder den Lüsten seines imaginären. […] Keine Logik hält die Figuren zusammen, determiniert ihre Nachbarschaft: die Figuren stehen außerhalb von Syntagma und Bericht; es sind Erynnien; sie ereifern sich, prallen aufeinander, beruhigen sich, kehren wieder, entfernen sich, ohne größere Ordnung als die eines Mückenschwarmes. Der dis-cursus der Liebe ist nicht dialektisch; er wechselt wie ein immerwährender Kalender, wie eine Enzyklopädie der affektiven Kultur […].« (Barthes 1984, 19f.)
»Um verständlich zu machen, dass es sich hier nicht um eine Liebesgeschichte (oder um die Geschichte einer Liebe) gehandelt hat, um der Versuchung des Sinnes zu widerstehen, war es erforderlich, eine absolut bedeutungslose Gliederung zu wählen. Die Abfolge der Figuren (die unvermeidlich ist, weil das Buch seinem Wesen nach zum Fortgang genötigt ist) ist also zwei miteinander gepaarten Willkürakten unterworfen worden: dem der Benennung und dem des Alphabets. Jeder dieser Willkürakte wird gleichwohl gemildert: der eine durch die semantische Vernunft (von allen Nomina des Wörterbuchs kann eine Figur nur zwei oder drei aufnehmen), der andere durch die unvordenklich alte Konvention, die Ordnung unseres Alphabets regelt. Auf diese Weise sind die Listen des reinen Zufalls vermieden worden […].« (Barthes 1984, 21)