X.
Das unbekannte Ich als Gegenstand biographischer und autobiographischer Enzyklopädien und Lexika
Biographien und Autobiographien als Lebensbücher
Konzepte und Implikationen

Die Aufgabe der Buchführung über das menschliche Le­ben kann nicht nur bei himmlischen (jenseitigen) Instanzen liegen, sondern auch in den Händen des Menschen selbst. Auch der Mensch, der das Leben eines anderen Menschen oder das eigene Leben beschreibt, möchte, daß der Beschriebene nicht vergessen wird. Und auch mit fremd- oder selbstbiographischen Projekten verbindet sich vielfach die Idee einer Rechtfertigung – vor dem Himmel, vor der Nachwelt und vor den Menschen oder auch vor sich selbst. Schon die ägyptischen Grabinschriften – oft von den später Verstorbenen selbst zu Lebzeiten ver­faßt – wurden als erste »Au­tobiographien« charakterisiert, da sie diese Funktion der Selbstrechtfertigung haben. (Vgl. dazu Assmann 1983, 64ff.) Wer sein Leben beschreibt, möchte dieses erinnerbar halten, aber auch reflektieren und kommentieren. Indem das Leben zum Buch wird, soll es verständlich werden. Die Autobiographie scheint außerdem oftmals Anlaß zu einer Auseinandersetzung mit sich selbst und einer daraus resultierenden Selbster­kenntnis zu sein. Michel de Montaigne vertritt diesen Anspruch auf programmatische Weise, auch wenn er mit den »Essais« im engeren Sinne keine Bio­graphie schreibt; er betrachtet sein autobiographisches Werk, die Aufzeich­nung sei­ner Ge­danken, als Darstellung seines Wesens.

»In dem Buch, das ich vorlege, will ich aufrichtig sein. [...] Ich wünschte, es könnte meinen Verwandten und meinen Freunden nütz­lich sein: Wenn ich nicht mehr bei ihnen bin [...], können sie in diesem Buche vielleicht einige Züge meines Wesens und meiner Gemütsart wiederfinden und dadurch das Bild, das sie von mir gewonnen haben, vervollständi­gen und beleben. [...] man soll mich in meiner einfachen, gewöhnlichen, un­studierten und ungekünstel­ten Gestalt sehen. Denn ich stelle eben mich dar.« (Montaigne 1984, 34)