X.
Das unbekannte Ich als Gegenstand biographischer und autobiographischer Enzyklopädien und Lexika
(2) ROLAND BARTHES par roland barthes (1975)

Dieses Buch ist ›autobiographisch‹. Das Leben des Schriftstellers Barthes wird aber in Absetzung von Gattungskonventionen der Autobiographie nicht linear im Sinn einer kohärenten, womöglich sinnvollen Folge, dargestellt, sondern vor den Augen des Lesers in einzelnen Stücken ausgebreitet. Barthes vergleicht diese Text-Stücke mit Steinen, die jemand im Kreis um sich herumlegt. Der solcherart in Stücken vorliegende Text korrespondiert einem Ich, das sich als zerstückelt wahrnimmt.

Das Subjekt ist für Barthes keine Einheit, keine homogene ›organische‹ Instanz, sondern etwas Zerstreutes, Partikuläres:

»Wenn wir heute von einem geteilten Subjekt reden […], [so wird] eine Diffraktion […] ins Auge gefaßt, eine Aufstreuung, in deren Auseinanderfall es weder Hauptkern noch Sinnstruktur gibt: Ich bin […] verstreut.« (Barthes 1978, 156)

Damit ist die Basis konventionellen autobiographischen Schreibens hinfällig (vgl. Carlo Brune, Roland Barthes, 248). Die traditionelle Form des autobiographischen Bekenntnisses erscheint obsolet.

»Dieses Buch ist keins von ›Bekenntnissen‹« (Barthes 1978, 131) – »Welches Recht hat meine Gegenwart, von meiner Vergangenheit zu sprechen? Hat meine Gegenwart meine Vergangenheit im Griff? Welche ›Gnade‹ hätte mich erleuchtet?« (Barthes 1978, 131)

Das Modell des ›zerstreuten‹ Subjekts wirft die Frage auf, wie sich dieses schriftstellerisch abbilden läßt. In seiner Abhandlung »Sade, Fouriera, Loyola« schreibt Barthes:

»[W]äre ich Schriftsteller und tot, wie sehr würde ich mich freuen, wenn mein Leben sich dank eines freundlichen und unbekümmerten Biographen auf ein paar Details, einige Vorlieben und Neigungen, sagen wir auf ›Biographeme‹, reduzieren würde.« (Barthes 2002, Sade, Fourier, Loyola, 13)

Wie Carlo Brune betont, ist »Roland Barthes par Roland Barthes« die Umsetzung dieses Wunsches, nämlich »eine bewusst fragmentarische, sich von der narrativen Kontinuität des traditionellen autobiographischen Diskurses radikal abgrenzende Form autobiographischen Schreibens.« (Brune 2003, 248) Schon der Titel und die Typographie des Titels (ROLAND BARTHES par roland barthes) deuten an, daß der ›Beschriebene‹ (ROLAND BARTHES) nicht einfach ein sich ›authentisch‹ artikulierendes Ich ist, sondern eine Kunstfigur, die (ganz buchstäblich) abhängig von den Buchstaben ist. »All dies muß als etwas betrachtet werden, was von einer Romanperson gesagt wird.« (Barthes 1978, 5) So wird das dargestellte Leben zum Kunstwerk; das künstlerische Arrangement bedingt, daß dieses »Leben« lesbar wird. Das autobiographische Ich ist seine eigene Inszenierung, so wie auf einem Theater inszeniert wird. In »Fragments d’un discours amoureux« heißt es über den Liebenden, dieser sei sein eigenes Theater; Analoges gilt für das autobiographische Ich (vgl. dazu auch Brune, 249).

»Die lebenswichtige Anstrengung dieses Buches besteht darin, daß ein Imaginarium inszeniert wird. ›Inszenieren‹ heißt: Kulissenstützen staffeln, Rollen verteilen, Stufen festlegen und am Ende gar aus der Rampe ein ungewisses Trennzeichen machen.« (Barthes 1978, 115)

Der Inszenierungscharakter des eigenen Ichs bzw. des eigenen Lebens wird u.a. durch den ständigen Wechsel der Perspektive auf »Roland Barthes« angedeutet. Das ›autobiographische‹ Ich erscheint so als ein aus Artikeln zusammengestücktes Patchwork-Ich. Dieses schreibend herzustellen, ist die eigentliche Motivation des Schriftstellers, der Lust am (entstehenden) Text hat.

»Mich kommentieren? Wie langweilig! Ich hatte nur eine Lösung: mich neuschreiben – von weitem, von sehr weit weg – von jetzt: den Büchern, Themen, Erinnerungen, Texten eine andere Art des Aussagens hinzuzufügen, ohne daß ich jemals wüßte, ob ich von meiner Vergangenheit oder meiner Gegenwart spreche. Ich werfe so über das geschriebene Werk, über den vergangenen Körper und Korpus [...] eine Art patch-work, eine rhapsodische Decke, die aus zusammengenähten Vierecken besteht. Weit davon entfernt zu vertiefen, bleibe ich an der Oberfläche [...].« (Barthes 1978, 155)
»In Fragmenten schreiben: die Fragmente sind dann wie Steine auf dem Rand des Kreises: ich breite mich rundherum aus, meine ganze kleine Welt in Bruchstücken.« (Barthes 1978, 101)