C.
Chasaren und Lexikographen –
Milorad Pavić: »Das Chasarische Wörterbuch« (Hazarski Recnik), 1984
Die alphabetische Struktur als historisch wandelbare Schein-Ordnung

Deren alphabetische Ordnung besiegelt und betont das Fehlen jeder anderen Ordnung; Geschichte stellt sich nicht als sinnvolle Entwicklung dar, sondern sie spiegelt sich in der Aneinanderreihung von Bruchstücken, die nach einem äußerlichen Ordnungsprinzip hintereinander gereiht werden. Unterstrichen wird die Kontingenz der alphabetischen Struktur noch dadurch, daß das christliche, jüdische und islamische Lexikon divergente Artikelfolgen aufweisen – als Folge der Unterschiedlichkeit der Sprachen und der Alphabete. Noch das Lexikon des Daubmannus sei, so heißt es einleitend, dreisprachig und in drei Schriften verfaßt gewesen – was unter anderem einander entgegengesetzte Leserichtungen nötig gemacht habe; auch habe es die drei verschiedenen Zeitrechnungssysteme der beteiligten Kulturen berücksichtigt.

»Ebenso sei erwähnt, daß hier aus einsichtigen Gründen nicht Reihenfolge und Alphabet des Wörterbuchs von Daubmannus beibehalten werden konnten, in welchem drei Schriften und drei Sprachen – die griechische, die hebräische und die arabische – benutzt und auch die Daten gemäß den drei Chronologien, wie sie in den Kalendern der erwähnten drei Sphären gelten, angegeben wurden. Hier werden alle Daten einem einzigen Kalender folgend umgerechnet, es wird eine Übersetzung des Materials von Daubmannus und seiner Ordnungswörter aus drei Sprachen in eine einzige gegeben; verständlicherweise waren im Original des 17. Jahrhunderts alle Wörter anders angeordnet, von Sprache zu Sprache tauchte in jedem der drei Wörterbücher (dem hebräischen, dem arabischen und dem griechischen) derselbe Name an verschiedenen Stellen auf; denn in den einzelnen Alphabeten folgen die Wörter nicht in der gleichen Reihenfolge aufeinander, die Bücher werden nicht in der gleichen Richtung geblättert, so wie die Hauptdarsteller in den Theatern nicht von derselben Seite her auf die Bühne treten.« (Pavić, S. 19)

Zwar ist das »Chasarische Wörterbuch«, das der Leser in der Hand hält, nicht wirklich in drei verschiedenen Sprachen verfaßt, aber über die Folge der Lemmata in seinen drei Teilen liest er gleichsam die Ordnungen dieser Sprachen mit. Der Erzähler ermutigt zudem den Leser im Vorwort dazu, die Artikel in beliebiger Reihenfolge zu lesen. Sie sind durch Querverweise miteinander vernetzt, auch über die Grenzen der drei Teilwörterbücher hinweg. Zum überwiegenden Teil enthalten die Artikel keine direkten Berichte über die Chasaren, sondern sie berichten über Personen, die sich mit den Chasaren beschäftigt, diese also bereits aus einer jeweils eigenen Perspektive heraus interpretiert haben. Manche Artikel enthalten Informationen über die Forschungen, die früheren Forschern gewidmet wurden, so daß das Wörterbuch aus Interpretationen, Meta-Interpretationen und Meta-Meta-Interpretationen zusammengesetzt ist.
Jegliche Wahrheit über die Chasaren ist ebenso ungreifbar wie dieses Volk selbst. Indem der Verfasser des fiktiven Sachwörterbuchs formal auf die Struktur einer Enzyklopädie anspielt, bietet er das Modell einer Kultur und eines Volkes, das buchstäblich-konkret ebenso wie auf der Ebene der ihm gewidmeten Interpretationen geteilt, zersplittert, unlesbar geworden ist. Pavić hat das »Chasarische Wörterbuch« im übrigen in zwei Fassungen geschrieben, die sich hinsichtlich des Schlusses unterscheiden und als »männliches« und »weibliches« Exemplar bezeichnet werden. Der Leser wird zuletzt aufgefordert, sich einen Partner zu suchen, der das Gegenstück zu dem von ihm gelesenen Wörterbuch besitzt; sein eigenes Buch ist also wiederum nur Teil eines größeren Zusammenhangs, der freilich kein Ganzes bildet. Übrigens wird der Leser sogar aufgefordert, das Buch auf alternative Weisen zu lesen und es schließlich selbst fortzusetzen (vgl. Pavić, S. 20).