C.
Chasaren und Lexikographen –
Milorad Pavić: »Das Chasarische Wörterbuch« (Hazarski Recnik), 1984
Säkularisierung

Hatte schon Lessing die Wahrheitsfrage durch den Verweis auf eine geschichtlich erst zu realisierende Wahrheit säkularisiert, so geht Pavić weiter. Mit der chasarischen Polemik selbst geht es zwar wie in der Ringparabel um die Frage nach einer Hierarchie der drei Religionen, aber die in den Roman eingegangenen Recherchen zur Frage, wie sich der Kagan entschieden habe, gelten damit eben einem historischen (oder als historisch betrachteten) Ereignis. Nicht eine metaphysische Wahrheit ist Gegenstand der Suche und der kontroversen Behauptungen, sondern ein Stück Geschichte. Ein säkularisierendes Moment liegt auch darin, daß – in letztlich ›polemischer‹ Opposition zum Selbstverständnis der Offenbarungsreligion der Kagan die schicksalhafte Entscheidung für eine der drei Religionen nicht von einer göttlichen Offenbarung oder einem indirekt auf transzendente Instanzen zurückverweisenden Wunder abhängig machen will (also nicht von einem Gottesurteil), sondern von einem Disput zwischen Gelehrten, bei dem sich die plausibleren Glaubensüberzeugungen, vielleicht aber auch die besseren Argumente durchsetzen sollen. Die drei Theologen solcherart vor seinen Thron rufend, reklamiert der Kagan implizit die Richterrolle für sich selbst bzw. für sein Urteilsvermögen, das damit ›polemisch‹ über Glaubenswahrheiten gestellt wird. An die Stelle der drei Ringe treten drei Geschichten, darüber hinaus aber auch Informationsträger verschiedener Art, die auf die Chasaren zwar zurückverweisen, doch auf vieldeutige Weise. Zu ihnen gehören insbesondere die schriftlichen Dokumente verschiedenster Provenienz, in denen von den Chasaren die Rede ist – und die einander widersprechen. Auch insofern geht es im Roman um eine ›chasarische Polemik‹.