C.
Chasaren und Lexikographen –
Milorad Pavić: »Das Chasarische Wörterbuch« (Hazarski Recnik), 1984
Geteilte Wahrheiten: Auskünfte der drei Wörterbücher

Wer im »Chasarischen Wörterbuch« die drei Teillexika auf die Wahrheit über die chasarische Polemik befragt, bekommt folgende Auskünfte:

»Chasarische Polemik« – »ein Ereignis, das die christlichen Quellen in das Jahr 861 verlegen, gemäß dem Wortlaut der Vita Konstantins aus Saloniki, des heiligen Kyrillos, jener Vita, die im 9. Jahrhundert geschrieben wurde und in der sogenannten Handschrift der Theologischen Akademie in Moskau wie auch in der Version von Vladislavs Grammatik aus dem Jahre 1469 erhalten ist. In dem erwähnten Jahr 861 kamen Abgesandte der Chasarenê zum byzantinischen Kaiser und sprachen: ›Seit alters kennen wir nur den einen Gott, der über allem ist, und vor ihm verneigen wir uns gen Osten, auch halten wir uns an unsere anderen heidnischen Bräuche. Die Juden überreden uns nun, ihren Glauben und ihren Gottesdienst anzunehmen; die Sarazenen ihrerseits ziehen uns, während sie uns Frieden und zahlreiche Geschenke anbieten, zu ihrem Glauben hinüber, indem sie sprechen: ›Unser Glaube ist besser als der aller anderen Völker‹ – deshalb wenden wir uns an euch, die wir gegen euch Freundschaft und Liebe hegen, denn ihr Griechen seid ein großes Volk und empfangt die kaiserliche Macht von Gott; wir bitten daher um euren Rat und ersuchen euch, uns einen eurer gelehrten Männer zu entsenden; sollte er denn im Streitgespräch Juden und Sarazenen besiegen – so werden wir euren Glauben annehmen.‹« – »So wandte sich der Kagan vom Juden ab und überzeugte sich aufs neue, daß die Argumente Konstantins des Philosophen die wahren seien. Er trat mit seinen Oberhäuptern zum Christentum über und schickte dem griechischen Kaiser einen Brief, der in Kyrillos’ Vita unter folgendem Wortlaut erwähnt wird: / ›Du hast uns, Herr, einen solchen Menschen gesandt, der uns das Licht des christlichen Glaubens in Wort und Tat erkklärte, und wir überzeugten uns, daß dies der rechte Glaube ist, und wir befahlen den Menschen, sich freiwillig taufen zu lassen...‹(!)« (=Aus dem christlichen (roten) Teil des Wörterbuchs)
»Chasarische Polemik« – »(...) Das Jahr, in dem die Sache zur Entscheidung anstand, ist nicht gesichert, Al-Bakrī macht jedoch darauf aufmerksam, daß die Chasaren den Islam vor anderen Glaubensrichtungen annahmen und zwar im Jahre 737 nach Isa. Die Frage, ob der Übertritt zum Islam und die Polemik gleichzeitig stattfanden, ist eine andere Sache. Offensichtlich nicht. So ist das Jahr der Polemik unbekannt. Ihr Kern liegt freilich offen zutage. Dem Drängen von zahlreichen Seiten ausgesetzt, sich einem der drei Glaubensbekenntnisse anzuschließem – dem Islam, dem Christentum oder dem Judentum –, verlangte der Kagan nach drei gelehrten Männern: nach einem Juden [...], nach einem griechischen Theologen [...] und nach einem der arabischen Ausleger des Koran. Dieser dritte nannte sich Farabi ibn Kora, in die Polemik trat er als letzter ein, denn man hatte ihn in seiner Anreise gehindert. Daher begannen zunächst der christliche und der hebräische Vertreter das Gespräch, und der Grieche war im Begriff, den Kagan immer mehr für seine Ansichten zu gewinnen.« – »[...] der Kagan [...] begriff, daß der Grieche zwar mit einer Engelszunge ausgestattet war, daß die Wahrheit jedoch auf der anderen Seite lag. Und er erteilte endlich dem Mann des Kalifen das Wort, Farabi ibn Kora.« – »Auf diese Worte hin umarmte der Kagan Farabi ibn Kora, und damit war alles beschlossen. Er nahm den Islam an, zog seine Schuhe aus, betete zu Allah und ließ seinen Namen verbrennen, der ihm nach chasarischem Brauch vor der Geburt verliehen worden war.« (= Aus dem islamischen (grünen) Teil des Wörterbuchs)
»Das Ereignis, das Gegenstand der Aufmerksamkeit aller erwähnter Quellen ist, spielte sich in den sparsamsten Umrissen auf folgende Weise ab. In der Sommerresidenz des Kagan [...] fanden sich drei Theologen ein, ein jüdischer Rabbiner, ein griechischer Christ und ein arabischer Mulla; der Kagan aber gab ihnen seinen Entschluß bekannt, mit seinem ganzen Volk zum Glauben desjenigen von ihnen überzugehen, der ihm die annehmbarste Deutung seines Traumes geben würde. Im Traum also war dem chasarischen Kagan der Engel erschienen und hatte zu ihm gesagt: ›Gott sind deine Absichten lieb, nicht aber deine Werke.‹ Um diese Worte drehte sich das Streitgespräch [...] Anfangs schwieg der hebräische Vertreter Rabbi Isaak Sangari und ließ die anderen sprechen [...]« – »Hierauf wandte sich der Kagan dem jüdischen Vertreter mit der Frage zu, was er zu seiner Religion zu sagen habe. Rabbi Isaak Sangari antwortete ihm, daß sich die Chasaren ja gar nicht zu einem neuen Glauben bekehren sollten. Mochten sie den alten bewahren. Als sich alle über eine solche Meinung verwunderten, erklärte der Rabbi: / ›Ihr seid keine Chasaren. Ihr seid Juden und kehrt dahin zurück, wo euer Platz ist: zum lebendigen Gott eurer Vorfahren.‹ / Und dann begann der Rabbi, seine Lehre vor dem Kagan darzulegen. [...] Und der Kagan begann, die Sprache zu verstehen, in der Gott im Paradies zu Adam gesprochen hatte [...].« – »In Wahrheit verlief die Bekehrung der Chasaren zum Judentum in zwei Phasen. Die erste begann unmittelbar nach dem Sieg der Chasaren über die Araber im Jahre 730 […]« (= aus dem gelben (hebräischen) Teil des Wörterbuchs)

Alle drei Wörterbücher geben also eigene, von denen der anderen abweichende, ja mit ihnen unvereinbare Auskünfte. Jedes behauptet den Sieg der eigenen Kultur – und damit deren exklusive Überzeugungskraft, wenn es um den Disput über Wahrheit geht.
Pavićs Roman unterscheidet sich in einem Punkt maßgeblich von der Lessingschen Ringparabel und deren Vorläufern: Erstens werden die hinsichtlich ihres Ranges umstrittenen Ringe durch drei Erzählungen ersetzt: durch drei Versionen des Berichts über die Chasarische Polemik –, und zweitens bilden diese Streitobjekte, anders als die Ringe, Perlen oder Steine früherer Versionen, Bestandteile des Romantextes selbst, was eben deshalb möglich ist, weil sie Texte sind. In solcher Integration der konkurrierenden angeblichen Wahrheits-Träger liegt gegenüber Boccaccios und Lessings Parabel ein Moment der Fortentwicklung und zugleich der Potenzierung: Dort stellte sich das Erzählen als ein Handeln dar; bei Pavić lesen wir drei Versionen einer Geschichte und ahnen, daß keine wahr, jede aber auf ihre Weise geschichtsmächtig ist.