C.
Chasaren und Lexikographen –
Milorad Pavić: »Das Chasarische Wörterbuch« (Hazarski Recnik), 1984
Entdifferenzierung zwischen Fiktionalem und Historischem

Pavićs Roman über die Unlesbarkeit der Geschichte zielt auf die Verwirrung des Lesers ab – eine Verwirrung nicht allein gegenüber der erzählten Geschichte, sondern auch gegenüber der Geschichte im Sinne von Historie, an welcher der Roman mit seinen Berichten über die (immer noch aktuelle) weltpolitische Lage anschließt. In der Entdifferenzierung zwischen Fiktionalem und Historischem besteht eine zentrale Strategie der Verwirrung. Sie betrifft sowohl die Entscheidung für die Chasaren als zentralen, wenngleich ungreifbaren, Gegenstand der Darstellung – denn gerade dieser Stoff wirkt wie erfunden, als auch die Vernetzung der romaninternen fiktionalen Ereignisse mit der sogenannten Realgeschichte. Der Verfasser dieses Lexikonromans verfährt subversiv mit der für das abendländische Denken zentralen Leitdifferenz von Sein und Schein, Nichtfiktion und Fiktion. Nicht minder subversiv wird anläßlich der Erbfeindschaft zwischen den Vertretern der jüngsten Generation von Chasarenforschern die Differenz zwischen Gut und Böse in Frage gestellt. Marionettenhaft agieren diese in den Gespinsten eines Textes, der nicht nur ihnen unlesbar bleibt, sondern auch uns.

Die eigentlich subversive Dimension des Romans besteht darin, daß er die Frage nach dem Sinn von Toleranz als solcher aufwirft. Denn diese erscheint als Wert, insofern die wechselseitige Anerkennung fremder Kulturen und Kultgemeinschaften als Möglichkeitsbedingung einer Kommunikation mit dem Fremden erscheint, welche den Fortbestand der Menschen sichert – und den Fortschritt der Menschheit, sei dieser auch ein durchaus säkularer. Die in Pavićs Roman modellierte Welt gibt wenig Anlaß zu solchen Hoffnungen.