C.
Chasaren und Lexikographen –
Milorad Pavić: »Das Chasarische Wörterbuch« (Hazarski Recnik), 1984
Zur Frühgeschichte der Ringparabel

Plausibel erscheint die These, die spanische Frühversion der Geschichte spiegele die Auseinandersetzung mit der Reconquista und mit der religiösen wie politischen Unterdrückung der Juden. In Rabbi Salomon Ibn Vergas »Schevet Jehuda« (»Scourge of Jehuda«) von 1551 findet sich die älteste bekannte jüdische Version. (Boccaccio lebte aber vor Ibn Verga; seine Version war letzterem nicht bekannt (dazu Niewöhner 45, der die Parallelität der Parabeln durch den gemeinsamen Rückgang auf eine ältere Fassung plausibilisieren möchte.) Hier stellt nicht ein islamischer Sultan, sondern der christliche König Pedro I. von Aragon (1094–1104) die verfängliche Frage nach dem wahren Glauben, und ein jüdischer Weiser verbindet die Erzählung der Ringparabel mit der Bitte um Toleranz gegenüber den unterdrückten Juden in Spanien. In Ibn Vergas Fassung der Parabel selbst geht es um zwei statt um drei Söhne. Beide haben vom Vater je einen kostbaren Stein geerbt. Beide Steine sind echt; die Frage gilt nur dem Wert dieser Steine, deren Besonderheiten und Unterschiede. Der Vater ist auch nicht tot, sondern nur verreist. Der Weise, der vorgibt, von den Söhnen über den Wert der Steine befragt worden zu sein, verweist diese auf die Rückkehr des Vaters, der am besten wissen müsse, was es mit den Steinen auf sich habe. Ibn Vergas jüdische Version erinnert an eine Geschichte aus dem 8. Jahrhundert, in der es um eine verlorene kostbare Perle geht und die dem nestorianischen Patriarchen Timotius I (Amtszeit 780–823) zugeschrieben wird, der 780 ein Gespräch mit dem intoleranten abbasidischen Kalifen al-Mahdi geführt haben will. Eine ausgeprägt christlich eingefärbte Variante der Ringparabel ist in die »Gesta Romanorum« eingegangen. Die Vorgeschichte der Ringparabel ist durch Friedrich Niewöhner in ihrer hohen Komplexität beleuchtet worden. Niewöhner trägt in Verbindung damit Argumente zur Stützung seiner These zusammen, Maimonides sei Verfasser der Ur-Parabel gewesen.
Als Parabel über die Frage nach der wahren Offenbarungsreligion tritt die Ringparabel schon in einer frühen Phase ihrer häufigen Umformungen in Beziehung zu einer anderen Geschichte bzw. einem anderen Topos, welche ebenfalls die Rivalität der Offenbarungsreligionen bespiegelt, nur mit anderem Akzent. Von Maimonides stammt ein »Sendschreiben an die Jemeniten«, wo von Jesus, Paulus und Mohammed als den drei großen Betrügern die Rede ist. In dieser kritischen Perspektivierung der drei großen religiösen Lehrer wird wiederum eine Erbschaft aktualisiert: Als ein Nebenzweig in der Geschichte der Ringparabel kann die komplizierte und widersprüchliche Überlieferungslage hinsichtlich einer Behauptung gelten, welche der vom Papst als ketzerisch verurteile Friedrich II. im 13. Jahrhundert aufgestellt haben soll, nämlich die These von den drei Betrügern. Gemeint sind Christus, Moses und Muhammed, von Friedrich angeblich als drei Schwindler bezeichnet, die die ganze Welt betrogen haben. Der Papst Gregor IX. wirft dies dem Kaiser 1239 in einem an alle geistlichen und weltlichen Herrscher der Christenheit gerichteten Brief zumindest vor. Friedrich reagiert auf diesen Brief, indem er die Behauptung selbst bestreitet, die Stoßrichtung seiner Kritik dabei aber noch dezidierter auf die gegenwärtigen Vertreter der Kirche lenkt. Affinitäten zwischen dem Drei-Betrüger-Topos und der Ringparabel bestehen insofern, als die Hinterlassenschaft zweier oder dreier äußerlich ununterscheidbarer Wertgegenstände ja letztlich als eine wenn auch gutgemeinte Täuschung der einzelnen Erben durch den Vater betrachtet werden kann. Die implizite Mahnung zur Toleranz ist insofern zumindest subkutan mit dem Gedanken verbunden, sich mit der eigenen Befangenheit in Täuschungen abzufinden.
Hans Robert Jauss hat, auf Niewöhners Befunden aufbauend, die Ringparabel im Kontext einer Gattungsgeschichte des Religionsgesprächs erörtert, deren Anfänge er in der Spätantike vermutet und als deren Hauptmotiv missionarische Intentionen anzunehmen sind Zu den wichtigen geschichtlichen Zeugnissen dieses Genres gehört das sogenannte »Liber Cosri« des Jehuda Halevi aus der Mitte des 12. Jahrhunderts. Es handelt sich um einen Konversionsdialog, bei dem der König der Chasaren als Fragesteller auftritt. Als Kontrahenten stehen einander dabei ein Christ und ein Moslem gegenüber. Diese kapitulieren, nachdem ihnen nachgewiesen wird, daß eine große Zahl ihrer Glaubensinhalte aus der Thora abgeleitet wurde, sie also nur Derivate der ursprünglicheren jüdischen Lehre sind. Zu dieser Lehre wird ein Rabbi ausführlich befragt. Als dessen Antagonist tritt ein arabischer Philosoph auf, der den Rabbi mit mehreren theologischen Kernproblemen konfrontiert. Der Rabbi weist die Zweifel des Philosophen mit der Differenzierung zwischen Glauben und bloß philosophischer Gelehrsamkeit ab. Allerdings hält der Philosoph dem Theologen entgegen, die Religion der Philosophen verlange wenigstens nie, einen Menschen zu töten – anders als es bei den einander befehdenden und um die Vorherrschaft ringenden Christen und Moslems zu beobachten sei.