C.
Chasaren und Lexikographen –
Milorad Pavić: »Das Chasarische Wörterbuch« (Hazarski Recnik), 1984
Die Vorrede

Was uns der Vorredner des eigentlichen Wörterbuchs mitteilt, löst das Rätsel um die Chasaren nicht, sondern bekräftigt nur mit erzählerischen Mitteln deren Verschwinden.

»In der Geschichte meldeten sich die Chasaren zu Wort, als sie in die Kriege mit den Arabern eintraten und ein Bündnis mit dem byzantinischen Kaiser Herakleios im Jahre 627 abschlossen, ihre Herkunft blieb aber unbekannt, so wie auch alle Spuren verschwanden, die Auskunft darüber geben könnten, unter welchem Namen und unter welchem Volk man die Chasaren heute zu suchen hätte. [...] Von der historischen Bühne verschwanden die Chasaren samt ihrem Staat, nachdem sich abgespielt hatte, wovon hier am meisten die Rede sein wird – nachdem sie von ihrem ursprünglichen und uns heute unbekannten Glauben zu einem der drei (wieder weiß man nicht, zu welchem) bekannten Glaubensbekenntnisse jener und dieser Zeit bekehrt worden waren – zum hebräischen, islamischen oder christlichen. Alsbald nach der Bekehrung erfolgte nämlich der Zerfall des chasarischen Reiches. Einer der russischen Heerführer des 10. Jahrhunderts, Fürst Svjatoslav, verspeiste, ohne vom Pferd zu steigen, das Chasarenreich wie einen Apfel. Die Residenz der Chasaren am Kaspischen Meer, im Mündungsgebiet der Wolge gelegen, zerstörten die Russen im Verlauf acht schlaflos zugebrachter Nächte im Jahre 943, und zwischen 965 und 970 zerschlugen sie den chasarischen Staat. Augenzeugen vermerken, daß die Schatten der Häuser in der chasarischen Residenz noch lange nicht einstürzen wollten, nachdem die Gebäude selbst schon längst vernichtet waren. Sie verharrten im Wind und im Wasser der Wolga. [...] Die materiellen Überreste der chasarischen Kultur sind sehr spärlich. Keinerlei Inschriften, weder öffentliche, noch private, sind entdeckt worden, es gibt keine Spur von chasarischen Büchern [...], noch eine Spur von ihrer Sprache [...].« (10f.)

Das Verschwinden der Chasaren aus der Geschichte ist das einzig Gewisse. Dem allerdings korrespondiert die Form des Buches besser, als es jede positive und in sich widerspruchsfreie Darstellung je zu tun vermöchte.

»Der erwähnte Vorgang der Bekehrung, der für das Geschick der Chasaren ausschlaggebend war, spielte sich wie folgt ab. Der Herrscher der Chasaren – der Kagan –, so berichten alte Chroniken, hatte einen Traum; und er schickte nach drei Philosophen verschiedener Herkunft, damit sie seinen Traum ausdeuteten. Dies war für den chasarischen Staat insofern von Bedeutung, als der Kagan beschlossen hatte, mit seinem Volk zu dem Glauben desjenigen Weisen überzutreten, dessen Deutung am annehmbarsten sein werde. Einige Quellen behaupten, daß dem Kagan am Tage, als er diesen Entschluß faßte, das Haar auf dem Kopf abstarb; er wußte davon, und dennoch trieb ihn etwas dazu fortzufahren. So fanden sich in der Sommerresidenz des Kagan ein islamischer, ein jüdischer und ein christlicher Missionar ein: ein Derwisch, ein Rabbiner und ein Mönch. Jeden von ihnen beschenkte der Kagan mit einem Messer, das aus Salz gearbeitet war; worauf man das Streitgespräch eröffnete. Die Standpunkte der drei Weisen, ihre Zusammenstöße, die in den Ausgangspositionen der drei verschiedenen Glaubensbekenntnisse begründet lagen, ihre Persönlichkeiten selbst und der Ausgang der Chasarischen Polemik riefen große Neugier hervor, äußerst gegenteilige Beurteilungen des Ereignisses und seiner Folgen, der Sieger und der Besiegten; und im Verlauf der Jahrhunderte wurden ihnen unzählige Erörterungen aus hebräischer, christlicher und islamischer Mitte gewidmet; all das dauert bis heute an, da es die Chasaren schon längst nicht mehr gibt.« (Pavić 11f.)

Thema des »Chasarischen Wörterbuchs« ist also die ungreifbare Wahrheit über die Geschichte.