C.
Chasaren und Lexikographen –
Milorad Pavić: »Das Chasarische Wörterbuch« (Hazarski Recnik), 1984
Eine verschwundene Welt

Vor allem die mysteriöser Weise als das Zimmermädchen Virginia Ateh reinkarnierte Prinzessin Ateh, die als Zeugin der jüngsten Ereignisse eigenartige Auskünfte gibt, steht für die Idee einer vieldeutigen, unfeststellbaren, ja unfaßlichen Wahrheit, welche mit dem Wahrheitsbegriff der Offenbarungsreligionen kontrastiert, dafür aber als ›poetisch‹ gedeutet werden kann. Nicht nur das Ende der Chasarischen Polemik entzieht sich dem Bedürfnis, etwas zu »wissen«. Die Chasaren als ein Volk, von dem gar keine sichere direkte Spur zurückgeblieben ist, nur indirekte Spuren in Gestalt der Zeugnisse späterer Beschäftigung mit ihrer rätselhaften Geschichte – Zeugnisse, die einander zudem oft widersprechen –, die Chasaren, die es dabei doch einmal gegeben hat (übrigens nicht nur in der Fiktion Pavićs), sind Inbegriff all dessen, was sich der Deutung entzieht. Was sie charakterisierte, war ihre generelle Neigung zur Metamorphose, ihre Tendenz, sich dem Fremden zu assimilieren und in verfremdeter Gestalt, fremder Sprache, fremden Formen fortzubestehen – ja ihre Neigung, sich selbst nur via negationis zu nennen.

»Man gibt den Chasaren in ihrem Staat ungern diesen Namen. Stets benutzt man irgendeine andere Bezeichnung, während man dem Namen ›Chasaren‹ aus dem Weg geht. In den Gegenden nahe der Krim, wo es auch griechische Bevölkerung gibt, bezeichnet man die Chasaren als nichtgriechische Bevölkerung oder als Griechen, die nicht dem Christentum einverleibt sind, im Süden, wo es Juden gibt, nennt man sie nichtjüdische Gruppen; im Osten, wo zum Teil Araber im chasarischen Staat angesiedelt sind, nennt man die Chasaren selbst nichtislamisierte Bevölkerung. Diejenigen Chasaren aber, die eines der fremden Glaubensbekenntnisse angenommen haben (das jüdische, griechische oder arabische), werden hier nicht länger als Chasaren bezeichnet, sondern man zählt sie zu den Juden, Griechen oder Arabern; umgekehrt aber bezeichnet man die seltenen und zufälligen Überläufer zum chasarischen Glauben in chasarischer Umgebung als das, was sie vor der Bekehrung gewesen waren, man betrachtet sie also nicht als Chasaren, vielmehr auch weiterhin als Griechen, Juden oder Araber, obwohl sie sich zum chasarischen Glauben bekennen. Anstatt von einem Menschen zu sagen, er sei Chasar, drückte sich unlängst ein Grieche so aus: ›Im Kaganat werden als künftige Juden diejenigen bezeichnet, die dem griechischen Glauben nicht angeschlossen sind und chasarisch sprechen.‹« (So ein Eintrag aus dem gelben = jüdischen Wörterbuch. Pavić, 233)

Glaubt man den Berichten des Wörterbuchs, so war es für die Chasaren charakteristisch, daß sie sich schrittweise von ihrem Namen, ihrem Stand und ihren religiösen Ritualen zu lösen pflegten. Um der Möglichkeit solcher Verwandlung willen schätzten sie die fremdkulturell geprägten Bewohner ihres Landes. Die chasarische Sprache wurde auf eigentümliche Weise gebraucht: Araber, Griechen und Juden schrieben chasarische Gedichte, die Chasaren selbst hingegen verzichteten auf die schriftliche Fixierung ihres Idioms. Sie lebten in der Gegenwart. Und sie trieben keine Historiographie.

»Es lassen sich im chasarischen Staat viele gelehrte Juden, Griechen oder Araber treffen, die die chasarische Vergangenheit, die Bücher und Dokumente über die Chasaren ausgezeichnet kennen, man spricht über sie eingehend und mit Anerkennung, einige von ihnen schreiben sogar chasarische Gedichte, nur den Chasaren selbst ist dies nicht erlaubt, sie dürfen über die eigene Vergangenheit weder sprechen noch Bücher über sie zusammenstellen.« (Pavić, 233–234)