C.
Chasaren und Lexikographen –
Milorad Pavić: »Das Chasarische Wörterbuch« (Hazarski Recnik), 1984
Drei Wörterbücher statt dreier Ringe

An die Stelle dreier Ringe sind also drei Wörterbücher getreten. Unentscheidbar wie die Frage nach dem echten Ring ist die nach der Wahrhaftigkeit der Wörterbuch-Artikel, deren Auskünfte sich vielfach widersprechen, während sie sich in anderer Hinsicht auch zu ergänzen scheinen. Die Suche nach Informationen über die Chasaren, ihrerseits Gegenstand der Wörterbuch-Artikel, setzt sich bis in die Gegenwart des Erzählerberichts hinein fort, worüber in einem rahmenden Erzählerbericht informiert wird. 1982 findet in Istanbul ein Orientalistenkongreß statt, an dem u.a. drei Wissenschaftler teilnehmen (eine Frau und zwei Männer), die den drei verschiedenen Religionsgemeinschaften verbunden und aus unterschiedlichen Gründen mit der Geschichte des Chasaren in Berührung gekommen sind. Die katholisch erzogene Polin Dorota Schulz, der Moslem Abu Muawija und der Jude Isaijlo Suk, alle 1930 geboren, sind zugleich Repräsentanten und Opfer einer tief zerrissenen Welt, und ihre Lebensgeschichten sind auf tragische Weise zum einen durch den nationalsozialistischen Terror und seine desolaten Folgen für Zentral- und Osteuropa, zum anderen durch den arabisch-israelischen Konflikt im Nahen Osten geprägt. Mord und Totschlag bestimmen das finale Szenario. Dr. Isalo Suk wird von Dorota Schulz ermordet, Dr. Muawija von einem kleinen Jungen. Die reinkarnierte chasarische Prinzessin Ateh ist als Kellnerin tätig. Sie – wie die Chasaren insgesamt – steht für die Idee einer vieldeutigen, unfeststellbaren, ja unfaßlichen Wahrheit, welche mit dem Wahrheitsbegriff der Offenbarungsreligionen kontrastiert, dafür aber als ›poetisch‹ gedeutet werden kann (vgl. Jauss 395).
Die Struktur des »Chasarischen Wörterbuchs« potenziert die Unlösbarkeit der Frage nach der historischen Wahrheit über die Chasaren. Denn erstens bietet es ja in den drei Teillexika zu diversen Gegenständen abweichende Informationen. Zweitens unterliegen die drei Teilwörterbücher in ihrer alphabetischen Anordnung der Kontingenz, denn nichts ist beliebiger als die Ordnung der Buchstaben im Alphabet – woran bei Pavić unter anderem der Hinweis des fiktiven Kompilators erinnert, daß man es hier eigentlich mit drei Alphabeten (dem hebräischen, dem griechischen und dem arabischen) zu tun habe. Zurückgenommen wird mit der Betonung der Kontingenz des alphabetischen Ordnungsmusters implizit der kabbalistische Glaube an die in der Buchstäblichkeit der Lettern verborgene Wahrheit – ein Buchstaben-Glaube, auf den im Roman selbst explizit angespielt wird.