C.
Chasaren und Lexikographen –
Milorad Pavić: »Das Chasarische Wörterbuch« (Hazarski Recnik), 1984
»Das Chasarische Wörterbuch«: inhaltliche und thematische Analogien zur Ringparabel

Pavićs Roman, durch eine Fülle intertextueller Bezüge geprägt, steht insbesondere in der Nachfolge der Ringparabel. Das verschwundene Volk der Chasaren stand, wie es heißt, in fruchtbarem kulturellem Austausch mit Angehörigen der jüdischen, christlichen und islamischen Religion und zeichnete sich durch seine Offenheit für Fremde aus, wobei es fremden kulturellen Einflüssen gegenüber sogar zur Selbstverleugnung tendierte. Der chasarische Herrscher, genannt Kagan, reagierte eines Tages in ungewöhnlicher, für die Chasaren aber durchaus typischer Weise auf die insistenten Missionierungsversuche der Vertreter der drei Offenbarungsreligionen, die allesamt behaupten, im Namen des wahren Glaubens zu sprechen. Der Kagan lud daher je einen jüdischen, christlichen und islamischen Weisen, zu einem theologischen Disput an seinen Hof, um als Zuhörer darüber belehrt zu werden, welcher Glaube den anderen beiden überlegen sei. Zwar besaßen die Chasaren selbst eine ererbte (monotheistische) Religion, doch als Folge der von den eifernden Missionaren Konfrontation mit der zuvor offenbar nicht relevanten Frage nach dem wahren Glauben waren der Kagan und sein Volk zum Religionswechsel bereit, um Gott auf die richtige Weise zu dienen. Die Disputation am Hofe des Kagan – in historiographischen Zeugnissen die chasarische Polemik genannt – findet statt; einer der drei Theologen besiegt seine beiden Kontrahenten. Daraufhin konvertiert das Volk der Chasaren unter Anführung des Kagan zu dieser Religion. Als Folge komplexer historischer Entwicklungen im Spektrum zwischen kultureller Assimilation und Genozid verliert sich in den Jahrhunderten bis zum Anbruch der Neuzeit die Spur des ganzen chasarischen Volkes; es existiert nicht mehr, und nur spärliche und rätselhafte Spuren erinnern an seine einstige kulturelle Blüte. Als Ursache seines spurlosen Verschwindens, seiner Absorption durch eine andere Kultur und Religionsgemeinschaft erscheint die erstaunliche Toleranz des Kagan gegenüber dem fremden Glauben, den fremden Sitten und Lebensformen.
Man weiß aber nicht, welche Religion das Volk denn nun angenommen habe, welche den Kagan also mehr als die anderen überzeugte. Denn es gibt nicht einen Bericht über die Ereignisse, sondern mehrere, die sich widersprechen, und der Roman selbst erzählt nicht »die« Geschichte der Chasaren, sondern er ist aus widersprüchlichen Teilgeschichten zusammengesetzt. Seine Struktur ist die eines Lexikons, das aus einer erheblichen Zahl von einzelnen Artikeln besteht, welche zwar auf direkte oder indirekte Weise allesamt etwas mit den Chasaren zu tun haben, ihre Informationen aber aus unterschiedlichen Quellen beziehen, die ihrerseits wieder vielfach von anderen Quellen abhängig sind. Das Frontispiz und die (fiktionale) Einleitung des Buchs geben dieses als um Nachträge erweiterte fragmentarische Rekonstruktion eines früheren »Chasarischen Wörterbuchs« aus dem 17. Jahrhundert aus, das von einem gewissen Johannes Daubmannus kompiliert wurde und dessen sämtliche Exemplare vernichtet wurden. Nicht aus diesem zerstörten Vorgängerwerk des Daubmannus selbst, sondern aus der (neuerlichen!) Polemik, die es in Gelehrtenkreisen entfachte und die zur Entstehung unterschiedlicher Texte (Briefe, Abhandlungen etc.) führte, bezieht das vorliegende Lexikon der Rahmenfiktion zufolge seine Auskünfte. Daubmannus hatte Quellen unterschiedlicher Provenienz konsultiert, welche sowohl die Geschichte der Chasaren als auch die Geschichte derer zum Gegenstand hatte, die sich seit dem Mittelalter mit der Geschichte der Chasaren auseinandergesetzt hatten; dabei waren sehr unterschiedliche und voneinander abweichende Darstellungen berücksichtigt worden. Insbesondere hatte er sich auf das »Liber Cosri« des Jehuda Halevi gestützt. Da sich an der Auseinandersetzung über die Geschichte der Chasaren jüdische, christliche und islamische Gelehrte beteiligt hatten, hatte Daubmannus das kompilierte Wissen in jeweils einem jüdischen, einem christlichen und einem islamischen Teillexikon zusammengestellt, welches in hebräischer, griechischer und arabischer Sprache verfaßt und in entsprechend verschiedenen Schriftformen gedruckt wurde. Das gegenwärtige neue Chasarische Wörterbuch gliedert sich ebenfalls in drei Teillexika, ein »Rotes Buch«, das die »christliche(n) Quellen zur chasarischen Frage« darstellt bzw. deren Auskünfte aufbereitet, ein »Grünes Buch« mit den islamischen und ein »Gelbes Buch« mit den hebräischen Quellen (Pavić, 21).