Für die Deutung der Lessingschen Fassung der Ringparabel sind die Beziehungen zu seiner unmittelbaren Vorlage zweifellos besonders signifikant. Analog verlaufen die Parabeln Melchisedechs und Nathans nur bis zu dem Punkt, an dem die Söhne sich erfolglos nach dem Tod des Vaters über die Echtheit ihrer Ringe auseinandersetzten. Während Melchisedech seine Erzählung mit der Feststellung der Unfeststellbarkeit des echten Rings schließt, um dem Sultan die Bedeutung der Parabel durch Analogisierung der religiösen Erbschaften mit den drei Ringen zu verdeutlichen, nimmt Lessing diese Feststellung einer Unfeststellbarkeit zum Anlaß, dem übernommenen stofflichen Substrat eine ganz neue Pointe zu geben. Die Episode um den Besuch der drei Erben beim weisen Richter mit ihrer dialogischen Erörterung des Wahrheitsproblems hat bei Boccaccio noch keine Vorlage. Während bei Lessing hypothetisch alle drei Ringe als falsch verdächtigt werden, solange sich die Söhne noch streiten, aber auch alle drei echt werden können, wenn sie in angemessener Weise getragen werden, hatte Melchisedech befunden, daß es einen echten Ring zwar gebe (und insofern die begriffliche Differenzierung zwischen echt und falsch berechtigt sei), man Original und Duplikate eben nur nicht unterscheiden könne. Indem die Frage Saladins nach dem wahren Glauben solcherart zurückgewiesen wird (letztlich stand hinter ihr ja auch kein echtes theologisches Interesse, sondern eine pragmatische Überlegung), vermittelt die Novelle doch eine Einsicht – eine zum Anlaß der Frage passende säkulare und pragmatische freilich: Sie besagt, daß sprachliche Interaktionen Formen des Handelns sind, bei welchem Machtstrukturen ausgehandelt werden. Das Austragen von Interessenkonflikten durch verbale Kommunikation, vor allem durch Erzählungen, erscheint als eine kultivierte und für alle Beteiligten gleichermaßen nutzbringende Form solcher Aushandlung.
Sowohl Lessing als auch Boccaccio geben ihren Versionen der Parabel eine Akzentuierung, in deren Konsequenz die metaphysische Wahrheitsfrage, welche am Stoff der Ringparabel aus Überlieferungsgründen zu haften scheint, jeweils eigentümlich depotenziert wird. Melchisedech erklärt die Frage nach jener absoluten Wahrheit, der das tiefgründige Interesse der Metaphysik gilt, ziemlich lakonisch für unbeantwortbar. Und die Novelle, in der er selbst auftritt, scheint ihrem Leser nahezulegen, statt unlösbaren metaphysischen Problemen nachzuhängen und sich mit anderen Menschen womöglich darüber zu entzweien, sich lieber weltklug und kooperativ zu verhalten, nicht an mehrdeutigen religiösen Lehren herumzudeuten, sondern lieber das Handeln der Mitmenschen zu interpretieren, kurz: lieber Psychologie als Theologie zu betreiben. Nathan läßt die metaphysische Kernfrage nach der Wahrheit als dem letzten Grund hinter sich, indem er »Wahrheit« statt als Grund als Projekt verstanden wissen will.